Das Wurstmännchen von Geiselwind

Eine ausgefallene Variante der Verteidigung ließ sich die Bratwurst im Marktflecken Geiselwind einfallen.

Der schwedische General Murrmann setzt soeben zum entscheidenden Sturm auf den damals stark befestigten Freizeitpark an, als eine Abordnung der Bürgerschaft den Belagerer ein letztes Mal zum Einlenken bewegen will: »Sie gingen hinaus mit der weißen Fahne in der Hand. Das Belagerungsgeschütz schweigt, und der General empfängt sie in seinem Zelt, wo er eben im Begriff war, eine Wurst zu verzehren. Er hörte die Bürger an, wollte aber nichts von Bedingungen wissen; unbedingte Ergebung war es, worauf er bestand. Da riefen die Bürger aus: ‚Nun, so wolle uns Gott helfen, daß ihr nicht in unsere Mauern kommt!‘
‚So wahr ich diese Wurst in Händen halte, komme ich hinein‘, entgegnete der General. Aber in demselben Augenblick sprang eine große Katze auf des Generals Schultern, schnappte ihm die Wurst aus der Hand und lief davon. Die Gesandten erzählten zu Hause den Vorfall, und ihre Erzählung brachte neuen Mut unter die Bürger. Tapfer kämpfend wehrten sie den Feind mehrmals ab, die Schweden zogen sich zurück, und Geiselwind blieb unerobert.
(Dr. Porzelt)

Der verhinderte Bratwurstesser Murrmann aber zog schließlich doch noch in Geiselwind ein. Nicht als Eroberer, sondern als unvergängliches »Wurstmännchen«. Porzelt: »Zum Andenken ließ die hocherfreute Bürgerschar die merkwürdige Begebenheit in Stein nachbilden, nämlich den General mit einer großen Wurst in der linken Hand und einer nach der Wurst krallenden Katze auf der rechten Schulter.«

Operation Rostbratwurst (1573-1648)

Der Däumling, die Schweden und eine Rettungsaktion

Die Erfindung der kleinsten Bratwurst der Welt ist der größte Coup der fränkischen Bratwurststrategen. Im Schutz der Kaiserburg arbeiten die Nürnberger Metzger beflügelt an einem ultimativen Produkt, das die ganze Bandbreite menschlichen Hungers befriedigen soll. Jährlich werden die Würste kleiner, und 1573 ist es soweit: Auf dem städtischen Wurstmarkt werden 8 cm lange Würstchen angeboten, von denen drei Stück den kleinen Appetit stillen, das doppelte Dutzend den Bärenhunger.

Die mit der winzigen Wurst konfrontierten Nürnberger sind – wie bei allen Innovationen – erst einmal mißtrauisch. Skeptisch mustert die Kundschaft den Däumeling, gegen den der Magistrat am 1. Oktober 1573 schärfsten Protest erhebt. Doch die Metzger, die wegen »Gewichtsverstößen« immer wieder untertänigst um Strafnachlaß bitten müssen, da sonst die halbe Zunft hinter schwedischen Gardinen säße, stehen unbeirrt zu ihrer Weltneuheit. Geduldig leisten sie Aufklärungsarbeit, bis auch der unbeugsamste Verfechter einer satten 100-gr-Einheit – der Nürnberger Magistrat – von der optimal portionierbaren »Duodezausgabe der fränkischen Bratwurst« (Erich Lissner) begeistert ist.

Damit ist die Weltmetropole Nürnberg endgültig Bratwurst-City, Hauptstadt Ihrer Majestät und Geburtsort ihres edelsten Sprößlings. Wie ein Mann steht die Bürgerschaft hinter der Wurstsensation, die von einer treuen Lobby verhätschelt und zu ungeahnter Größe gebracht wird. In einem beispiellosen Werbefeldzug machen die Nürnberger, seit je erfahren in der Kunst, »den Makrokosmos mittels der Mikrologik zu strukturieren« (Wolfgang Dettelbacher), binnen weniger Jahrzehnte aus der mickrigen Kleinstwurst ein Markenzeichen.

Auf den Reichstagen, vor dem Schönen Brunnen am Hauptmarkt und in den zahlreichen Bratwurstküchen der vielbesuchten Stadt preisen Bänkelsänger im breitesten Dialekt die Vorzüge der damenfingerlangen Wurst. Feinsinnig verweisen sie auf den mikrokosmischen Charakter des filigranen Kunstwerks, das nahtlos an andere weltberühmte Nürnberger Kleinstprodukte anknüpft. An Taschenuhren beispielsweise, die die Zeit in die Hosentasche zwängen, oder an den Behaim’schen Globus, auf dessen kürbisgroßer Oberfläche die ganze unvorstellbare Weite des Erdapfels paßt. Höchst beeindruckt bestellen sich die Fremden noch ein Dutzend mit Kraut und suchen nach Worten, wie sie die Daheimgebliebenen überzeugen können, daß »die von Nuremberg« wahrhaftig solche Wunderwerke herstellen können.

»Allem Großen gegenüber ist der Franke skeptisch« (Fitzgerald Kusz)

Am Anfang des 17. Jahrhunderts leben die Nürnberger ganz für ihre Wurst – für weltpolitische Aktivitäten bleibt keine Zeit mehr. Die Handelshäuser rutschen in die roten Zahlen, doch das ist egal. Die Bratwurst sitzt fest auf ihrem Thron. 1606 wimmelt ganz Nürnberg von Rostbratwürsten, die gesalzene für 3 1/2 Pfennig, die Pfefferwurst nur einen halben Pfennig mehr. In den Gaststätten der 40.000-Einwohner-Stadt glühen die Bratwurstroste im Akkord – bis 21 Uhr. Nach der Polizeisperrstunde servieren gewitzte Garköche ihre schlanken Würstchen hungrigen Nachtschwärmern sogar durchs Schlüsselloch, wie eine Anekdote wissen will.

Dann überzieht der Dreißigjährige Krieg auch das Frankenland. Wie immer in Zeiten der Not wird aus der Bratwurst eine begehrte Rarität, von der plündernden Soldateska bevorzugt geräuchert als harte Währung geschätzt. Blutrünstige Söldnerheere aus Dänemark, Schweden, Frankreich, Niedersachsen oder Böhmen belagern die fränkischen Bastionen.
Doch diese halten allen Attacken mit einer simplen Taktik stand.
Wenn die Mordbuben nach monatelanger Belagerung glauben, mit dem armseligen Haufen ausgehungerter Städter leichtes Spiel zu haben, gaukeln die ausgemergelten Verteidiger der Rostbratwurst einen satten Kapitalbestand vor: Begleitet von der Geräuschkulisse des versammelten Stadtvolks, das mit letzter Kraft das Grunzen einer quietschvergnügten Schweineherde imitiert, wird das letzte Schwein vom letzten starken Mann provokativ über die Zinnen der Stadtmauer getrieben. Um das Maß voll zu machen, winkt der Held den verdutzten Landsknechten mit den letzten Würsten zu.
Worauf sich in Dinkelsbühl, Neustadt a. d. Aisch, in Geiselwind und vielen Städtchen mehr dieselben Szenen abspielen: Deprimiert brechen die raubgierigen Belagerer ihre Zelte ab und versuchen ihr Glück bei der nächsten Bratwurstfestung. Und beißen sich die Zähne aus.

So rettet die Bratwurst dankbar das Leben derer, die ihr so treu ergeben waren. Als 1648 der Westfälische Friede dem Gemetzel ein Ende setzt, gibt es zwar katholische und evangelische Franken, doch über alle Glaubensgrenzen hinweg vergöttern sie ihre gemeinsame Königin – sei es die innovative kleine Nürnberger, ihre fette Base vom Land oder die lange Coburger, der seit dem 1. Juni 1622 als einziger Bratwurst der Welt ein Schutzheiliger zur Seite steht. Seit diesem Tag wacht der Hl. Mauritius als »Bratwurstmännla« über die Einhaltung der korrekten Wurstlänge.