Die fränkische Bratwurst bis 2000

Aufbruch zu neuen Ufern

Nach dem Kriegs-Inferno muß das Leben irgendwie weitergehen. Brotersatz, Kaffeeersatz und Honigersatz in knappsten Rationen sind per Bezugsschein erhältlich, Schokolade, Zigaretten und dubiose Würste wechseln auf den Schwarzmärkten der zerbombten Städte ihre Besitzer. Die fette Königin der Würste ist Erinnerung. 1946 schafft es der Erlanger Bürgermeister, über dunkle Kanäle einige Bratwürste für die Bergkirchweih zu besorgen, doch es bleibt eine Geste des guten Willens: Über die »rätselhafte Zusammensetzung« der verabreichten Bratlinge grübeln die Kerwagänger lieber nicht nach.
Erst die Währungsreform bringt Linderung. 1949 rauchen auf dem Coburger Marktplatz wieder die ersten Bratwurstbuden – der Alltag kehrt langsam nach Franken zurück. 1951 wettert der Ortsgeistliche von Wechingen wie zu besten Zeiten gegen den Mißbrauch der »Kirchweih« für die »Sauf-, Freß- und Tanzfeste in den Wirtschaften«. Die Leute lassen den Mann reden. Und widmen sich in der aufdämmernden Wirtschaftswunderzeit hingebungsvoll den Ausschweifungen mit der geliebten Wurst.

Ein Ort dieser Ausschweifung sind die wiedereröffneten Nürnberger Bratwurstküchen. Hier lauern professionelle Bratwurstesser, die »Wetter«, darauf, daß ihnen jemand eine Wette anbietet. Zum Beispiel, daß sie keine fünfzig Bratwürste schaffen. Ein Augenzeuge über die Schlußphase der folgenden Vertilgungsschlacht: »Mit letzter Nervenkraft, einigen Seidla Bier und unter den anfeuernden, , ermutigenden Rufen der Zuschauer verschwindet endlich das letzte Zipfelchen der 50. Bratwurst zwischen den Zähnen des Delinquenten.« So gestärkt macht sich das Frankenvolk an den Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands.
1958 kurbelt das Weihnachtsgeschäft mit eingedoster Bratwurst die einheimische Wirtschaft an. Hunderttausende von Dosenwürsten bringen Grüße aus dem Frankenland unter die Weihnachtsbäume in England, Frankreich, Spanien, Brasilien und – geschmuggelt – in die USA. Schon bald darauf kann Heimatforscher Scherzer schreiben: »Sprunghaft wachsende Städte mit ausgedehnten Industrieanlagen, leistungsstarke Kraftwerke, blitzende Schienenstränge und wohlausgebaute Städte künden vom Fleiß des schaffenden Franken.«

»Die Brotzeit ist nicht an die Uhr gebunden« (Eva Hörn)

Wer so viel arbeitet, muß viel essen. Auf dem Baugerüst, in der Senffabrik, am Ackerrand, im Obstbaumhain oder im Bierkeller – zu jeder sich bietenden Gelegenheit werden Bratwürste gereicht. Auch die vielbeschäftigte High Society hält sich strikt an den überarbeiteten fränkischen Knigge: »Nach dem Theaterbesuch ist gegen einen kleinen Bratwurst-Happen nichts einzuwenden.« Eitel Sonnenschein im fränkischen Wirtschaftswunderland. Mitte der Sechziger jedoch bedroht die Revolte haschrauchender und fruchtgummiessender Studenten die Existenzgrundlage der Bratwurstbranche – die bürgerliche Wohlstandsgesellschaft. Der Aufstand der Jugend gegen ihre Eltern wird aber nicht, wie vorgesehen, auf der Straße entschieden. Denn die Männer der Bratwurst schlagen zurück.

Ihre gefürchteste Waffe: die fast vergessene Grillparty, die schönste Hinterlassenschaft des fränkischen Biedermeiers. Mit dem Rücken zur Wand skandieren die Studenten

»Macht kaputt, was euch kaputtmacht«, die Metzgerinnung kontert mit »Grille, grille, Partyspaß!«.

Begleitet vom Applaus der Holzkohle-, Hollywoodschaukel- und Gartengrillindustrie eilt eine rasch wachsende Schar von Hobbyröstern an ihre Geräte und erstickt mit Millionen von Bratwürsten den Funken der Revolte. Auf heimeligen Grillabenden löst sich jeder Gedanke an eine andere Welt in Rauch auf. Die Jugendlichen ergeben sich. Auf alternativen Gartenparties machen sich Langhaarige an improvisierten Bratwurstrosten über die Landbratwurst vom Metzger Dennerlein her und singen optimistisch »We shall overcome«.
Die Metzger singen nicht, sie handeln. Es gilt, einer neuen Gefahr zu begegnen. In den Siebzigern verstößt der mächtige Supermarkt mit Billigwürsten gegen Paragraph 5 des Wurstlergrundgesetzes: »In der Wurstfabrikation kommt es nicht darauf an, wohlfeile, sondern schmackhafte Ware herzustellen.« In seinem aufopfernden Kampf um bezahlbare Qualität bedient sich das ehrwürdige Handwerk der Waffen des Fortschritts. Die Verkaufsstelle der rohen Bratwurst, das Fleischerfachgeschäft, erhält sein heutiges, freundliches Gesicht: »Leuchtend vor Sauberkeit, ausgerüstet mit allen Errungenschaften des modernen Ladenbaus, versehen mit blanken technischen Vorrichtungen und von zahlreichen Glühbirnen überstrahlt.«
Die dort verkaufte 1-A-Spitzenqualität inkl. freundlicher Bedienung kann jedoch nicht verhindern, daß der fränkische Bratwurstmarkt neu aufgeteilt wird. Für gute Freunde wird die Metzgerbratwurst geholt, Firmenjubiläen werden mit Metro-Würstchen begangen. Die jahrtausendealte, klassenlose Bratwurstgesellschaft existiert nicht mehr.

Dann beginnt das Zeitalter der Spaceshuttles und Mikrochips, und der fränkischen Bratwurst eröffnen sich neue Dimensionen. 1981 beobachtet Nürnbergbesucher Albrecht Baumgart: »In einem Keller neben St. Sebald sah ich drei Männer, die schössen tagtäglich einen guten Kilometer Darm voll mit acht- bis zwölftausend Nürnberger Wurstfüllungen. Das sind so Tagesläufe in der Arbeiterstadt Albrecht Dürers.«
Dieser bescheidene Bratwurstkilometer ist aber nur ein winziger Abschnitt der inzwischen täglich in Franken gefertigten Gesamtwurstlänge. Während Herr Baumgart noch über seinen Berechnungen brütet, werfen vier Bratwurstfabriken in und um Nürnberg ihre riesigen Wurstfüllmaschinen an. Genialen Tüftlern ist es gelungen, mit Hilfe rechnergesteuerter High-Tech die Produktion astronomisch vieler Bratwürste sicherzustellen. Vakuumverpackt werden sie dann über ganz Deutschland verteilt. So kommen endlich auch Hamburger an anständige Fränkische.

An der Schwelle zum Jahr 2000 stößt eine einzige fränkische Bratwurstfabrik Sommer für Sommer täglich 25 Tonnen Grill- und Pfannenwürste aus. Im Winter, auf dem Christkindlesmarkt, »laufen dem Mann, der am Rost steht, vor lauter Qualm dauernd die Augen«, wie sein Arbeitgeber mitfühlend der Lokalpresse berichtet. Und über das ganze Jahr schwer schuften muß der Coburger Innungsmetzger: 10.000 Stück wöchentlich – aber bitte handgefertigt – fordert seine Kundschaft. Goldene Zeiten für die Königin der Würste.

Kurz vor der Jahrtausendwende geschieht dann das Unglaubliche:
Die fränkische Spezialität verläßt ihren Kontinent.
Im August 1994 steigt der Nürnberger Bratwurstbaron Behringer mit einem Tütchen seiner geheimen Gewürzmelange und einigen Scheiten Buchenholz ins Flugzeug nach Tokio. Sein Ziel: die Vorstandsetage des Warenhausgiganten Takashimaya. Mit Feuereifer unterstützt der fränkische Wurstfachmann den japanischen Konzern beim Aufbau einer Rostbratwurstimbißkette im Land der aufgehenden Sonne.

Es ist vollbracht. Dem schweinernen Kleinod aus dem Herzen Europas sind keine Grenzen mehr gesetzt. Schon sehen euphorische Visionäre den Blauen Planeten als eine einzige kosmische Bratwurstbastion, eingehüllt von himmlischen Gerüchen. Denn immer weiter treibt es das kühne Würstchen in die Welt hinaus, wo es frohlockend seine Botschaft verkündet: »Kommt, laßt euch verführen! Ich bin die Königin der Würste, der Vorgeschmack aufs Paradies.«