Die fränkische Bratwurst im Barock

Von Seelenhütern, Völlerei und Kochbuchverlagen

Der Dreißigjährige Krieg hat ein entvölkertes, verwüstetes Mitteleuropa zurückgelassen. Dörfer und Städte siechen dahin, geplündert und gebrandschatzt von marodierenden Söldnerheeren. Doch in der Mitte des gebeutelten, zerrissenen Deutschlands erlebt die Königin der Würste einen paradoxen Höhenflug. Schon 1632, als der Rest des Kontinents die Ernährung von selten gewordenem Fleisch auf billige Agrarerzeugnisse umstellen muß, verköstigen in Nürnberg 227 Wirtshäuser ein zufriedenes Publikum mit ausreichend Würstchen.

Mit dem Kriegsschluß 1648 aber brechen in den fränkischen Gemeinden alle Dämme: Überschwenglich feiern die Überlebenden das Ende der langen Leidenszeit, verwursten fröhlich die letzten Schweine und halten sogenannte »Friedensfeste« ab, die allerdings – nach Aussagen Beteiligter -»häufig genug in Exzesse, Trink- und Freßorgien ausarteten«.

Diese »Friedensfeste« sind der Auftakt einer gigantischen Freßwelle, die im Zeitalter des Barocks ganz Franken erfaßt. So verspeisen 1735 beim Jahresessen der Nürnberger Büttnersund Bierbrauerszunft 15 Personen: 15 Pfund Rindfleisch, 8 Pfund eingemachtes Kalbfleisch, 8 Pfund Fleisch mit Kraut, 6 Pfund Karpfen, 6 Pfund Würste mit Hirsebrei, 15 Pfund Kalbsbraten, 12 Pfund Bratwürste – »und jeder Mann ein Speckküchlein dazu«.

Die Trinksitten stehen den ausufernden Eßgewohnheiten in nichts nach. Fuder-, faß- und eimerweise werden Wein, Bier und »Branntewein gesoffen«, welcher desinfiziert und der Verdauung hilft, besonders bei fetten, schweren Würsten. Doch soviel kann gar nicht getrunken werden, um den bösen Folgen barocker Völlerei zu begegnen. In der knappen Zeit zwischen Vesperpause und Vesperpause versuchen die besorgten fränkischen Landesherren und Magistrate, ihren maßlosen Untertanen mittels Gesetz Einhalt zu gebieten. Die Zahl der aufgetragenen Würste bei offiziellen Anlässen wird begrenzt, in Coburg muß sogar die bürgerliche Familienfeier im Gasthaus wg. Ausschweifungsgefahr untersagt werden.

»Würst umb wider würst« (Erasmus Alberus)

Auch der christlichen Kirche, ein uralter Förderer der gottgefälligen Bratwurst, wird angesichts des ausgelassenen Tanzes um die Königin des Wursthimmels angst und bang. Kirchendiener aller Konfessionen wenden sich mit beißenden Traktaten und gepfefferten Predigten gegen ihre verfressenen Schäflein. Besonders schwere Kaliber gegen »Freßmode und Sauflust« fährt der wortgewaltige Pater Abraham ä Santa Clara 1699 im fernen Wien auf, die in Franken allerdings ungehört verhallen.

Unbesorgt um ihr Seelenheil bestücken die Garköche ihren hypermodernen, drehbaren Rundrost und erzielen zum ersten Mal in der Geschichte des Röstens einen überaus gleichmäßigen Bräunungserfolg. Ebenso unbeeindruckt stopfen die Metzger derweil Wurst um Wurst, und auch die phantasievolle fränkische Hausfrau, der teuflischen Mode genauso verfallen wie ihre Familie, verschwendet keinen Gedanken an Höllenqual und Fegefeuer. Fieberhaft überlegt sie, wie sie ihre Liebsten mit bisher nicht gekannten Bratwurstkreationen entzücken kann.
Im Gegensatz zum Berufswurstler, dessen Rezept allerhöchster Geheimhaltungsstufe unterliegt, nimmt die redselige Hüterin des häuslichen Herds kein Blatt vor den Mund. Der etwas einfältigen Nachbarin, die ihrem Ehegespons seine Würste allein gebraten oder gesotten vorsetzt, vertraut sie – unter dem Siegel der Verschwiegenheit – nicht nur das von der Mutter geerbte Blaue-Zipfel-Rezept an. Auch für die brandneuen »Bratwurstrafioln« gibt sie genaue Anweisungen: »Nehmet Bratwurstgehäck oder leeret dasselbe aus dem Gedärm und rühret gerieben Brot darunter.«

Nicht nur dieses Gericht schlägt ein wie eine Bombe. Bald verschlingen die gutnachbarlichen Kochanweisungen soviel Zeit und Energie, daß ein Großteil der Hausarbeit unerledigt liegen bleibt. Wieder einmal ist es die Bratwurstmetropole Nürnberg, die der überlasteten Hausfrau einen Teil ihrer Bürde abnimmt und Ordnung in das sich anbahnende Chaos bringt: Das Übermitteln von Wurstrezepten/ Hausfrauenart wird professionalisiert. Die Nürnberger Kochbuchverlage werfen Bestseller um Bestseller auf den nimmersatten Kochbuchmarkt.

1691 endlich erscheint das Standardwerk für die häusliche Bratwurstköchin. Der »Gemerck-Zettul«, das »Erste Nürnberger Kochbuch« (Untertitel), enthält sechs der auserlesensten Wurstmahlzeiten, darunter Bratwurstsuppe und -knödlein; die erweiterte Auflage von 1702 fügt als letzten Schrei die Bratwurst im Schlafrock hinzu, »zu backen in einem sträuben Teig«.
Jedes Kapitel von »Wurst machen und pachen« beginnt mit einer anregenden Grundbrätrezeptur, die sich von Auflage zu Auflage dem sich wandelnden Zeitgeschmack anpaßt. Die einzige feste Größe im Wechselspiel der Up-to-date-Gewürze, so entnehmen wir der Gehäckliteratur des 18. Jahrhunderts, ist der Majoran, ohne den sich der Bewohner des mittelfränkischen Raumes seine Bratwurst nicht vorstellen kann. Auch die Unter- und Oberfranken haben noch vor der Französischen Revolution (1789) ihr Lieblingsgewürz gefunden. Erstere entscheiden sich endgültig für einen Hauch »Muscatenblüh«, die Bewohner des oberfränkischen Ostens, der Thüringer nachbarschaftlich verbunden, aber wählen den Kümmel zu ihrem Gewürzfavoriten.

Während in Paris die Köpfe der Aristokraten rollen, beenden die Franken ihre Geschmacksrevotution ohne Zank und Hader. Nach der Epoche rokokoesk-überbordender Gewürzmischungen hat die puristische Philosophie des Würzens gesiegt: Salz und Pfeffer, von Eichstätt bis Aschaffenburg sparsam dosiert, dienen als Geschmacksverstärker des Bräts aus bestem Fleisch. Das Regionalgewürz gibt die spezielle Note.

Nach Jahrtausenden des Tastens und Experimentierens ist die Bratwurst aus der Mitte Europas endlich so, wie sie sein soll – einzigartig saftig, unübertrefflich knackig, vollkommen im Geschmack. Auch die Königin der Würste weiß das. Stolz macht sie sich auf, die Welt zu erobern.

En-vogue 1789

Im Schicksalsjahr der Französischen Revolution gibt »Das Vollständige und auf die neueste Art eingerichtete Nürnbergische Kochbuch zum Unterricht für Frauenzimmer« folgende Gehäckanweisung für die hausgemachte Bratwurst:
»Hacke vier Pfund schweinernes Fleisch, so aus der Keule, Lenden und Bauch genommen wird, mit einer halben Theeschale voll Majoran ab, doch nicht zu klein, thue daran eine Hand voll Salz, geschnitten Zitronen und gestoßne Kardamonen und Pfeffer. Salz und Pfeffer muß aber vorschmecken, fülle es in Bratwurstgedärme und brate sie auf dem Rost ab.«