Die fränkische Bratwurst im Biedermeier

Goethe, das Wurstpaket und die Erfindung der Grillparty

Völker rebellieren, Throne wackeln, Armeen ziehen durch Europa. In dieser Zeit des Aufruhrs macht sich die fränkische Bratwurst daran, die Welt zu erobern. Ohne Kanonen, ohne Blutvergießen.
Ihre erste Station auf dem Weg zum Weltmarkt ist die einem guten Bissen nie abgeneigte deutsche Dichterunddenker-Elite. Auf ihrer rastlosen Suche nach dem versöhnenden Element zwischen Ideal und Wirklichkeit entdecken die hellsten der deutschen Köpfe – ausgenommen der schwäbische Sauertopf Schiller, der die schlichten Bauernbratwürste seiner Schwester bevorzugt – das Volksnahrungsmittel des Frankenlands als Delikatesse. Einer von ihnen, Ururenkel eines fränkischen Gastwirts mütterlicherseits, heißt Johann Wolfgang von Goethe.

Unbezähmbar ist des großen Dichters Drang zur Wurst. Doch völlig verfallen ist Herr Goethe der Bratwurst. »Mit fetter, dampfender Speise reichlich versehen«, (Goethe) drängelt sich der greise Meister rücksichtslos an überfüllte Kirchweih-Biertische. Die kleinen Nürnberger findet er so gelungen, daß er sie sich regelmäßig per Post nach Weimar schicken läßt, wie Antonius Anthus in seinen »Vorlesungen über Eßkunst« vermerkt. Und als dem Geheimrat einmal seine Leibvorräte auszugehen drohen, weist er die erschrockene Frau von Stein barsch an: »Schicken Sie mir durch Überbringer meinen Schwartenmagen und eine Bratwurst!«

»Die Würste sind meinem Magen schöne vergißmeinnicht von Nürnberg« (Jean Paul)

In einem wesentlich freundlicheren Ton erbittet sich am 5. Februar 1813 der »Verfasser des Hespereus und anderer sehr von Würsten verschiedener Werke« (Jean Paul über Jean Paul) von seinem Nürnberger Verleger 24 geräucherte ff-Fränkische, »unfrankiert und mit Rechnung der Kauf- und Packkosten mit der fahrenden Post«.
Deren korrekten Empfang quittiert er in Bayreuth am 12. März desselben Jahres. Natürlich sind Goethe und Paul nicht die einzigen, die sich ihre allantophilen Tafelfreuden postalisch zustellen lassen. Nach dem Vorbild der großen Deutschen ordert auch weniger berühmte Prominenz die fränkische Spezialität per Kurier. 600 reitende und fahrende Botenlinien befördern ab 1800 neben Brief- und Büchersendungen auch die Nürnberger Rostbratwurst in alle Himmelsrichtungen. Allen voran die fränkische Metzgerspost. Ihr historisches Verdienst ist es, daß das Wurstpaket aus Franken, vornehmlich in der kalten Jahreszeit zugestellt, noch vor der Erfindung des Eindosens einen ersten Boom erlebt.
Doch wer es sich leisten kann, reist selbst an. Ungerührt von Napoleon, der gerade Europa mit der französischen Küche bekanntmacht, kommt der fränkische Bratwursttourismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts in vollen Gang. Das »Glöcklein« zu Nürnberg wird Treffpunkt des in- und ausländischen Geld- und Geburtsadels, der hier sein Leben mit einer sinnvollen Tat bereichert: In dem winzigen Gastraum erbarmungslos zusammengequetscht, erhebt die feine Gesellschaft den Vor-Ort-Verzehr des Noriswürstchens zu einer Frage des Lifestyles, den man hat oder nicht.

»Denn wißt, wo einst Hans Sachs gesessen, hab‘ eben Würstlein ich gegessen« (Helene v. Forster)

Der Romantiker Ludwig Tieck (1773 -1853), angezogen vom lockenden Bratwurstduft, beläßt es nicht beim obligatorischen Besuch des »Glöckleins«.
Mit einer Semmel in der Hand begibt er sich auf Entdeckungsreise durch die 300 Einkehrstätten in den krummen Gassen der Reichsstadt und bekommt nicht genug. Auf der Suche nach weiteren Offenbarungen durchschweift er das »Gebürg«, die heutige Fränkische Schweiz. Dort legt er mit seinen Schwärmereien über den traumverlorenen Landstrich voller Burgen, Höhlen und Wursterzeugnissen aus eigener Schlachtung den literarischen Grundstein für das Fremdenverkehrswesen in Muggendorf, Pottenstein und vielen Orten mehr.

Was Tieck und Goethe recht ist, ist dem fränkischen Michel billig.
Während der Fleischverbrauch im krisengeschüttelten Deutschen Reich auf einen historischen Tiefststand fällt, bilden sich vor fränkischen Bratwurstbuden lange Schlangen. Auch der endgültige Anschluß an das Weißwurstkönigreich Bayern 1826 kann den Siegeszug der Königin der Würste nicht aufhalten. Im Gegenteil. Die friedlichen Franken greifen nicht zu den Waffen, sondern zur Wurst.
Besonders an ihrer Hauptkultstätte, der Kirchweih. In Scharen pilgern die neuen Nordbayern an den Ort zeitloser Glückseligkeit, an dem die Frankenkönigin ihren größten Zauber entfaltet. Willig lassen die Pilgerinnen sich verzaubern und verführen: In keiner anderen Region Deutschlands werden so viele Kirchweihen gefeiert wie in Franken, wo zum Beispiel das Dörfchen Heckenhof gleich zwei Kirchenweihen begeht, obwohl es nicht einmal eine Kapelle besitzt.
Vergnügt reibt sich das Heer der Bratwurströster, das seine Geschäfte auf »das lücken- und kollisionslose Aufeinanderfolgen der Kirchweihen rings im Lande aufgebaut hat« (Max v. Aufseß), die schmerzenden Hände: Pausenloses Würstchenwenden und Geldkassieren auf den Haupt-, Zweit-, Nach-, Fisch- und den Wirtskirchweihen zwischen dem zweiten Sonntag nach Ostern und dem Katharinentag am 25. November hinterlassen tiefe Spuren.

Die wenigen kirchweihfreien Wochenenden werden derweil von der Bevölkerung geschickt überbrückt. Zuerst im Coburger Land, wo der Gemeinschaftsverzehr gebratener Würste in Gottes freier Natur eine neue Variante erhält. An schattigen Bäumen oder an idyllischen Weihern in Dorfnähe werden »ortsfeste Grillroste« (Amtsdeutsch) installiert, an denen sich unter der »Bratwursteiche« oder am »Bratwurstweiher« Alte und Junge beiderlei Geschlechts zu einschlägigen Handlungen zusammenfinden.

»Der Franke ist auf unproblematische Art und Weise mit sich selbst zufrieden« (Theodor Heuss)

Auch der biedere Bürger verfällt dem betörenden Genuß einer im Freien verzehrten Gebratenen. Der feine Herr, der sich bislang naserümpfend von Kirchweih zu Kirchweih schlich, um ein Freifuft-Bratwurst zu erwerben, erfindet die Grillparty. Überall in Franken erstehen Apotheker, Professoren und Hoflieferanten Wochenendgrundstücke im Grüben. Dort lassen sie einen Bratwurstrost errichten, um im trauten Kreis höchst eigenhändig die Zubereitung zu betreuen. Weitab vom Lärm der Weltgeschichte ist nun Herrn Biedermeiers kleines Glück perfekt. Behaglich die Tonpfeife schmauchend, blickt er zufrieden auf seine satten Töchterlein. Vor ungehobelten Flirtversuchen angetrunkener Kirchweihburschen geschützt, verdauen die zarten Geschöpfe ihre Wurstportionen und necken kichernd Frau Mama.

Die Welt ist schön: Bratwurstduft hängt in den Bäumen. Mitte des 19. .Jahrhunderts werden von Hobby- und Profiröstern, von Hausfrauen und hungrigen Spätheimkehrern so viele Bratwürste wie nie zuvor in der Geschichte erhitzt und gewendet. Die Wirtschaftswissenschaft merkt dazu lapidar an: »Besondere Verbreitung erfuhr die Bratwurst in der Biedermeierzeit.«
Denn während schmerzhaft die weißblaue Flagge über der rot-weißen weht, hat die fränkische Bratwurst die Südgrenze ihres Stammlands längst überschritten und ist bis ins ferne München vorgedrungen. Dort gibt das – immer gut besuchte – »Nürnberger Wurstküchl« den Lederhosen eine Ahnung von den überirdischen Genüssen jenseits des Bratwurstäquators.