»Gwieß nergeds in der Welt senn die Wörscht su klaa, su knuspret und su gout.«

Damit will die reimende Fabrikantengattin Helene von Forster sagen:

Nirgendwo sind die Würstchen kleiner als in der 498.000-Seelen-Stadt östlich von Fürth. Nirgends liegt die »ortsübliche Qualität« (Fleischerfachjargon) höher über der Meßlatte des Deutschen Fleischerverbandes als in Nürnberg.
Und nirgends werden so viele Bratwürste hergestellt, verkauft und gegessen wie hier.
Die ehemalige freie Reichsstadt Nürnberg, Heimat der zierlichsten Bratwurst der Welt, ist die unangefochtene Hauptstadt Ihrer Majestät.

Auch kulturell, was außerhalb Nürnbergs kaum bekannt sein dürfte. In keinem anderen Gemeinwesen entspannt sich die Bürgerschaft an einem einzigen Samstagabend – neben vielen anderen Theaterangeboten – bei »6 aufs Kraut« (LGB-Zwischennutz), »Heissmanns heißer Broadwourschd-Broadway« (Kleine Komödie) oder »Sex ohne Graud« (Studiobühne Fürth) vom Alltag.

Nur in dieser Großstadt findet sich in den Bibliotheken und Archiven unter dem Buchstaben »B« ganz selbstverständlich das Stichwort »Bratwurst«. Und nur in Nürnberg werden die »Drei in am Lebkoung« verliehen (drei Bratwürste zwischen zwei Lebkuchen in einem Quarzwürfel), mit denen der »Spiegel«, die Wahljury des Christkinds ’93 u. a. ausgezeichnet wurden. Nürnberg ist Bratwurst-City.

Original oder Fälschung?

Zu seligen Zeiten hatten die Nürnberger Bratwurstproduzenten wenig Probleme mit dem Markenschutz. Es war unbestritten, »daß nur Nürnberger Metzger im Stadtgebiet die Rostbratwürste herstellten« (NZ). Erwischten sie einen Fürther Gastronom, der zum Erstaunen seiner Mitbürger »Echte Nürnberger« auf seine Tageskarte setzte, schmunzelten sie nur amüsiert.

In den 80ern vergeht ihnen das Lächeln. Obermeister Giering: »Leider müssen wir in letzter Zeit feststellen, daß bei festlichen Gelegenheiten immer wieder Würste unter der Bezeichnung ‚Nürnberger Bratwürste‘ angeboten werden, die weder im Geschmack noch mit ihrem Aussehen der ortsüblichen Qualität entsprechen.« Und das nicht nur in Fürth.

Gewissenlose Raubkopierer nutzen den großzügigen Wirtschaftsfreiraum der EG, um mit dem guten Namen der Nürnberger Geschäfte zu machen. Auf dem Volksfest und dem Weihnachtsmarkt überschwemmen auswärtige Billigimitate die Würstchenbuden.
Das geht zu weit. Mit Unterstützung der Opposition bekniet die Metzgerszunft die Stadtregierung, die Bratwurst, »hinsichtlich Technologie und Fleischauswahl ein Nürnberger Spitzenprodukt« (Fleischerinnung), in den gleichen Rang zu erheben wie den Lebkuchen oder das Spielzeug aus Nürnberg. Als auch Dr. Mulzer von der Lebensmittelüberwachungsbehörde die Gefahr sieht, »daß durch auswärtige Zulieferer eine Spezialität verwässert wird«, handelt die Stadt.

In einer eleganten Kombination aus Amtsdeutsch, Metzgerchinesisch und Juristenlatein stellt sie am 5. September 1984 die Bratwurst unter ihren Schutz. Demnach ist nur die eine Nürnberger Rostbratwurst, die unter Einhaltung städtisch verordneter Richtwerte im Raum Nürnberg gefertigt wurde. Zumindest im Stadtgebiet ist wieder Ordnung hergestellt.

Für einen wirksamen Wurstschutz auf nationaler Ebene jedoch sieht Ordnungsamtsleiter Dr. Hubertus Nehrlich wenig Chancen: »Das deutsche Lebensmittelbuch sieht den Bratwurstbegriff etwas großzügiger, als das die Nürnberger gerne hätten.« Richtig. Bis heute erscheint in diesem Werk die »Nürnberger Rostbratwurst« gleichwertig neben ihren minderwertigen Verwandten aus der Pfalz und Hessen, wo viel geringere Anforderungen an die Wurst gestellt werden als in Bratwurst-City.

Doch der Kampf um nationalen und globalen Titelschutz der Nürnberger Spezialität geht weiter.
Nach Agenturmeldungen steht eine 1-Mann-Armee in Brüssel kurz vor dem juristischen Durchbruch. Doch bis jede Nürnberger Rostbratwurst auch wirklich nur aus Nürnberg kommt, kann sich der Verbraucher bei Beachtung des folgenden Hinweises vor jeder Irreführung schützen: Zusätze wie »Echt« oder »Original« dürfen nur angefügt werden, wenn die Wurstware tatsächlich in der entsprechenden Region gefertigt wurde, andernfalls liegt eine irreführende Bezeichnung im Sinne des § 17 LMBG (Lebensmittelbuchgesetz) vor.

Die Nürnberger Rostbratwurst

Amtsblatt der Stadt Nürnberg, 5. September 1984:

»Im Einvernehmen mit dem Veterinäramt und der Chemischen Untersuchungsanstalt der Stadt Nürnberg sowie der Fleischerinnung Nürnberg wird darauf aufmerksam gemacht, daß bei der Herstellung von Nürnberger Rostbratwürsten nach Gewerbebrauch und Verbrauchererwartung folgende Rezeptur zu beachten ist: Ausgangsmaterial: grob entfettetes Schweinefleisch. Besondere Merkmale: mittelgrobe Körnung; ohne Brätanteil; nicht umgerötet; im engen Schafsaitling, auf 6 – 8 cm Länge abgedreht (Stückgewicht roh circa 25 gr).«

Die Würzung überläßt der Magistrat wie gewohnt dem Metzger.
Unerläßliche Zutaten sind jedoch Salz (nach einem Grundrezept 18 gr pro kg), Pfeffer (2 gr) und geriebene Majoranblätter (1 gr).

Wie die Bratwurst kleiner und kleiner wurde

Nürnberger Metzgerverordnung von 1497

»Es sollen pratwurste dermassen gemacht werden, das vier pratwurst am gewicht ungeferlich 1 pfund halten; und sollen das pfund umb vier Pf. geben oder 1 wurst um 1 Pf., so imands unter einem pfund kaufen wolt, und sollen auch sollichen kauf dermassen niemant versagen, was sie aber solicher pratwurst den kochen oder wirten machen, der sollen ungeferlich fünf 1 pfund wiegen, doch sollen sie derselben wurst ausserhalb der kochen und wirten weder unter den fleischpencken noch sunst iendert vail haben oder verkaufen.«

Die Nürnberger Rostbratwurst ist 7 -8 cm lang und hat einen Durchmesser bis zu 15 mm.
Eine liebenswerte Anekdote erzählt, sie erhielt ihre zierlichen Maße, damit sie durch ein mittelalterliches Schlüsselloch gesteckt werden kann. Auf diese Weise versorgten verständnisvolle Garköche hartnäckige Wurstesser durch die verschlossene Tür, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Denn um 21 Uhr war Sperrstunde.

In Wahrheit ist die fingerlange Köstlichkeit das Ergebnis eines jahrhundertelangen Schrumpfungsprozesses an den Grenzen der Legalität. Es war schlicht der Mangel an genug gutem Stoff, der das Juwel hervorbrachte, das – dosenverpackt – Nürnbergs Namen in die fernsten Winkel dieser Erde trug.

Anno 1363 unterscheidet sich der Bratwurststandard der 71 Nürnberger Metzger bezüglich Güte und Größe noch kaum von dem anderer Städte.
Deftig einfach sind sie, und alle sind etwa gleich schwer. Bis 1497. Die Bratwurstverordnung dieses Jahres hält die Meister an, den Garköchen aus einem Pfund Schweinefleisch fünf Würste (100 gr) zu fertigen, der Privatkundschaft aus der gleichen Menge aber nur vier (120 gr).

Die offizielle Zweiteilung in Privat- und Kneipenwürste ist der Grundstein der Nürnberger Rostbratwurst. Die renditefördernde Maßnahme für Garköche, in unbeschwerter Zeit bedenkenlos vom »Fleisch-Rath« abgezeichnet, entpuppt sich zunächst als Retterin der Qualitätswurst. Doch eine Teuerung bislang nicht gekannten Ausmaßes überzieht im 16. Jahrhundert die deutschen Lande. Ordentliche Bratlinge zu einem reellen Preis sind praktisch nirgendwo mehr zu bekommen. Doch im Gegensatz zu allen anderen deutschen Gesetzgebern, die stur auf der Einheitsgröße zum Schleuderpreis beharren, egal, was sich unter der Haut verbirgt, reagiert der Rat zu Nürnberg in dieser dramatischen Situation schlau und flexibel.

Während außerhalb Frankens die Würste bei gleicher Größe schlechter und schlechter werden, schrumpfen sie in Nürnberg einfach etwas. 1555 sind auf dem Bratwurstmarkt vier geschmacklich einwandfreie Größen zugelassen, von der 120-Gramm-Familienwurst bis zur 50 gr schweren Pfennigbratwurst, von der gut acht Stück aufs Pfund gehen.

18 Jahre greift die Flexible-Response-Politik des Rats. Dann sehen sich die Produzenten zur Sicherung ihres Existenzminimums zu weiteren Einsparungen gezwungen.

»87 Stuecke schaffte jemandt auf einen Record. aber Freßsäcke gibt es in jeder Stadt« (Adolf Knigge)

Herbst 1573. Auf dem Rost einer öffentlichen Küche brutzelt das erste überlieferte 25-Gramm-Würstchen der Weltgeschichte. Das geht denn doch zu weit. Am 7. Oktober 1573 beschimpft der Magistrat die Wirte und Garküchenbesitzer, weil sie unerlaubterweise für 4 Pfennig eine knapp 25 gr schwere Bratwurst anbieten, das sind aufs Pfund 80 Pfennig bei einem Festpreis von 12 Pfennig! Wucher ist das! Zeter und Mordio!

Doch gegen die neueste Unverschämtheit der Wurstbranche kämpfen die Ratsherren von Anfang an auf verlorenem Posten. Gerade in der Stadt, in der die gefürchtetsten Bürokraten Europas regieren, kümmert sich kein Mensch um deren wütenden Erlasse mit grausamen Strafandrohungen. Da ist sich jeder selbst der nächste, denn alle Dekrete wider die Feinportionierung des städtischen Volksnahrungsmittels ändern an der herrschenden Knappheit überhaupt nichts.

Jede Anordnung, die rare Ware wenigstens halbwegs gerecht zu verteilen, wird ignoriert. Auch die vom 17. 6. 1603, die die Metzger auffordert, an die Bevölkerung »vorwiegend pfundweise zu verkaufen, auf keinen Fall aber täglich auf den Kopf mehr als 4 bis 5 Pfund Würste herzugeben«.

Um auf ihr Quantum zu kommen, begeben sich die sonst so staatstreuen Bürger und Bürgerinnen ohne Skrupel auf den Pfad des Unrechts. Statt die Wucherer anzuzeigen, zahlen sie jeden geforderten Preis.

Heimlich schleichen sie in die Privatwohnung ihres Metzgers, wohlwissend, daß sie sich damit der »bereitwilligen Unterstützung des durchaus verbotenen Wurstverkaufs in den Metzgerhäusern« strafbar machen. Und zu Weihnachten oder Ostern bestechen sie diese Kreaturen gar mit teuren Geschenken, »um ihre Wohlgeneigtheit zu erhalten«.

Ohnmächtig müssen die Behörden zusehen, wie sich »bestimmte Kreise« gegen schweres Geld die dicken Würste sichern. Weniger betuchte Kunden werden mit Ausreden (»Tut mir leid, die sind bestellt«) oder den kümmerlichen Exemplaren abgespeist, mit denen die Garküchen ihre Kunden traktieren. Deren Köche empfehlen lächelnd, einfach nachzubestellen, falls zwei Däumlinge nicht genügen.

Wir wissen nicht, wie lange sich der Rat gegen den überteuerten Winzling wehrte. Irgendwann im 17. Jahrhundert jedenfalls kommt es zu einem Kompromiß. Die kleine Nürnberger zu einem amtlich festgesetzten zivilen Preis wird erlaubt, im Gegenzug schraubt die Bevölkerung ihren maßlosen Pro-Kopf-Verbrauch zurück.

Ein jahrzehntelanger Streit ist beendet, aller Zank und Hader vergessen. Denn am fränkischen Wursthimmel ist ein neuer Stern aufgegangen, dessen Glanz die Stadt erstrahlen läßt – erhabener als je zuvor.

Es herrscht wieder Friede in Bratwurst-City. Im 18. Jahrhundert trägt die Hausfrau die größere Pfannenwurst in sittsamer Zahl heim zu ihren Lieben, die Bratwurstküchen aber servieren das »niedlich Ding, nicht größer als ein Gedankenstrich, aber unnachahmlich lecker«. Es ist bereit, aus der Enge der alten Reichsstadt seinen Siegeszug um die Welt anzutreten.

Das alles ist Vergangenheit. Der Bratwurstengpaß ist längst behoben, das Angebot wohlfeil und ohne Lücken. Problemlos sind heute in der Hauptstadt Ihrer Majestät drei ihrer schönsten Varianten erhältlich: die robuste »Fränkische Bratwurst« (80 -100 gr), die »Nürnberger Bratwurst« (50 – 60 gr), deren Brät etwas feiner ist, und die »Nürnberger Rostbratwurst« (25 gr), von der jeder kriegt, soviel er will. Und hat er dann noch nicht genug, genehmigt er sich »Anne an der Gabel«, die kleinste erlaubte Bestelleinheit in Nürnberger Rostbratwurstküchen.

Kinder der Bratwurstmetropole

Wie die Mozartstadt Salzburg oder die Fußballhochburg Mailand bürgt die Bratwurstmetropole Nürnberg mit ihrem guten Namen für einen erstklassigen lokalen Markenartikel.

Ohne jedes Risiko. Landauf, landab gilt die berühmte »Rostbratwurst aus Nürnberg« seit Jahrhunderten als Garant für feinsten Genuß. Daraus ließe sich doch marketingmäßig etwas machen, denkt der einfach gestrickte Nichtfranke.
Weit gefehlt.

Ihre komplizierte Persönlichkeitsstruktur erlaubt es den heutigen Nürnberger Ratsherren nicht, mit der Bratwurst ihrer Stadt werbewirksam zu wuchern. Das schönste Geschenk des Schicksals an die Noris dünkt den allzu bescheidenen Räten angesichts gläserner Wolkenkratzer (Frankfurt) und glitzernder Modebälle (Paris) zu klein, zu provinziell, zu unspektakulär, zu altbacken. Nein, nein, mit so etwas dürfen wir den Leuten nicht kommen.

Kein Wort darüber. Einfach ignorieren. Beflissen handelt die Verwaltung nach der klaren Weisung aus der Chefetage. Selbst das Wirtschaftsreferat legt seufzend den Mantel des Schweigens um das Nürnberger »Spitzenerzeugnis mit bis in das 14. Jahrhundert zurückreichender Tradition« (Innungsmeister Giering).
Ersatzweise verweist es schüchtern auf die Schönheiten des Wirtschaftsstandorts Knoblauchsland und die Vorzüge eines familiären Messegeländes, um sich als West-Ost-High-Tech-Drehscheibe zu empfehlen.

Andererseits findet sich jeder offizielle Besuch, der keinem religiösen Schweinefleisch-Tabu obliegt, in der Bratwurstkneipe wieder. Denn ist die Kaste der städtischen Politiker auch zum Schweigen verurteilt, das kann ihnen niemand nehmen.

Nach altem Brauch weidet sich der Magistrat fraktionsübergreifend an den verdutzten Gesichtern seiner Gäste über die kleinen Nürnberger und verfolgt gebannt, wie die welteinmalige Delikatesse ankommt. Falls schlecht, ist der geplante Schüleraustausch zumindest stark gefährdet.

Irgendwann am Abend schließt auch der Stadtrat sein Büro. Für kurze Zeit schlägt das weiche Herz der Mächtigen endlich im Gleichklang mit jener alten Stadt, die ein Kapitel Wurstgeschichte schrieb. Benno Hubensteiner über ein Gespräch mit Bürgermeister Willy Prölß in einem Alt-Nürnberger Biergarten: »Wir redeten von der alten Reichsstadtherrlichkeit und ihrer Handwerkerehre, von Hans Sachs und Konrad Grübel, vom Nürnberger Kartoffelsalat und von den Nürnberger Bratwürsten.«

So steht es im deutschlandweit vertriebenen »Nürnberg-Merian« von 1981.
Wir redeten von den Nürnberger Bratwürsten. Mit Bürgermeister Prölß. Bravo. Trotz aller Verrenkungen wird die wahre Bedeutung der Bratwurst einmal mehr bundesweit publik. Wieder ist passiert, was den Lenkern dieser Stadt immer wieder passiert: In ihrem täglichen Kampf wider die eigene Natur werden sie, heillos verwoben mit ihrem geliebten Nationalgericht, manchmal schwach, und ein häßlicher Fleck verunziert die mühsam polierte Image-Oberfläche. Doch Nachsicht ist angebracht. Auch Nürnbergs Stadtväter sind Kinder der Bratwurstmetropole.

Rostbratwürstchenzahlenspiele

Was bedeutet es wirklich, in 90 Minuten (Zeit) 150 Kilometer (Raum) zurückzulegen? In welches greifbare Bild kann ich diese geistigen Hilfskonstrukte zur mathematischen Erfassung der Wirklichkeit kleiden?
Wenn die Nürnberger die abstrakte Welt der Zahlen verstehen wollen, helfen sie sich nicht wie Erstkläßler mit Äpfeln und Birnen, sondern mit ihren Würstchen.

1958, der Verkehr auf der Autobahn Nürnberg-München kommt gerade in Gang, macht die Presse anhand einer einfachen Bratwurstrechnung die Bevölkerung mit der phantastischen Dimension des automobilen Zeitalters vertraut: In zwei Bratwurstküchen der Stadt werden 6000-8000 Stück täglich verspeist. Im Jahr sind das knapp 3 Millionen Würstchen. Bei 8 cm Länge bilden sie aneinandergereiht eine Strecke von etwa 300 km.
»Grob gerechnet könnte also die Autobahn von Nürnberg bis München und zurück mit Bratwürsten begrenzt sein, und wir könnten fast drei Stunden lang vorbeibrausen.« Das ist immer noch kaum zu fassen, aber für die Nürnberger jetzt gut vorstellbar.

1993 wendet sich OB Peter Schönlein mit einem »sehr freundlichen Brief« an die Öffentlichkeit.
Sein Dienstwagen, noch vom Vorgänger übernommen, tut’s beim besten Willen nicht mehr. Um seinen Untertanen begreifbar zu machen, daß 45.000 DM für eine Staatskarosse wahrlich nicht zuviel sind (»Da muß ich mich bei meinen Kollegen lange umschauen, wer so bescheiden fährt«), rechnet er ihnen vor, was sie für das Geld ersatzweise kaufen könnten: 37.200 feinste Nürnberger Elisenlebkuchen oder 39.130 Nürnberger Rostbratwürste ohne Beilage oder ebensoviele Saure (Blaue) Zipfel – nicht einmal der Wochenumsatz einer Bratwurstküche.

Da verstummt der letzte Kritiker. Selbstverständlich darf sich der Herr Oberbürgermeister auf dem Automarkt nach einem Pkw dieser Größenordnung umtun. Aber für keine Bratwurst mehr!

Das Bratwurstglöcklein

Die älteste Wurstbude der Welt ist die Brotzeithütte von Regensburg, 1134 für die Erbauer des Regensburger Doms errichtet. Die bekannteste aber ist das Bratwurstglöcklein im Herzen Nürnbergs, dessen Erfolgsgeheimnis auf einer einfachen Rechnung beruht: feinste Würstchen + altnürnberger Geborgenheit = ein Bombengeschäft hauptsächlich mit Touristen.

Die Rechnung geht auf. Wie geplant erhebt sich das Glöcklein über alle anderen Imbißstuben und wird für Millionen gläubige Pilger der ersehnte Ort der Sinnerfüllung – das Bratwurstmekka.

Eine Momentaufnahme aus dem Jahr 1904:
»Und wahrlich, heute noch gilt dem Besucher das Bratwurstglöcklein als Hauptziel, und hat er es erreicht, dann fliegt die Postkarte heim und meldet das fröhliche Ereignis.«

Das aber ist die Geschichte des Glöckleins:
Irgendwann zwischen 1317 und 1344 wird an die Moritzkapelle bei St. Sebald eine Garküche hingelehnt, über deren kleine Würste die Königin von Rumänien einmal ein zierliches Sonett verfassen wird. Die erste Wirtsfamilie versorgt hinter ihrem schäbigen Bretterverschlag noch vornehmlich die Kundschaft der umliegenden »Branntweinständlein« am Sebalder Friedhof mit deftigen 120-Gramm-Kalibern.

1487 wird der »Koch pei sant Sebolt« das erste Mal als »das Glöcklein Peim Koch« erwähnt. Da ist die winzige Garküche schon eine Goldgrube – für die Stammkundschaft der Weltstadt spielt Geld keine Rolle. Dürer, Pirckheimer, Vischer, Krafft, Hans Sachs »und alle Sterne der Wissenschaft, Kunst und Literatur, die je am Himmel Nürnbergs prangten« (Gartenlaube) gehen hier ein und aus und genehmigen sich für einen Groschen Wurst und Bier.

»Die zu dir dringenden Gerüche, sie ziehn dich in die alte Küche« (Ernst Mummenhof)

Da ist jeder gerne Wirt, doch nicht jeder ist ein guter Wirt.
1655 muß der Zinsmeister Christof Derrer von und auf der Untern Bürg auf Drängen des Magistrats – »um eines besseren Nutzens und Frommens gemeiner Stadt willen« – das Glöcklein an den Garkoch Hannsen Vischern veräußern. Der packt die Sache richtig an. Das Anwesen wird unterkellert, aus acht Schuh Breite und 15 Schuh Länge werden zwölf bzw. 27 Schuh. Das ist mehr als die doppelte Größe, aber immer noch so eng, »daß man sich kaum umdrehen konnte, wenn mehrere Gäste verweilten«.

Die Investition zahlt sich aus. Berappt Vischer gerade 600 Gulden, schlägt er 1689 schon 1600 Gulden heraus, und nur zehn Jahre später muß Georg Rochus Weber 2400 Gulden auf den Tisch des kleinen Hauses legen. Allerdings bekommt er dafür auch das ganze Inventar dazu, darunter 4000 Bratwurstdärme.
Das Glöcklein, ständig den Hausherrn wechselnd, blüht fröhlich vor sich hin, Bilanzkurve und Verkaufspreise klettern stetig steil nach oben. 1729 »für 2900 Gulden Kauf- und 50 Gulden Leihkaufsumme« veräußert, kostet es 1804 4000 und 1836 bereits 10.254 Gulden. Die neuen Besitzer zahlen lächelnd.

Denn als das 19. Jahrhundert über Franken hereinbricht, wird es in der Stube ganz eng.
Die gereichten ff-Bratwürste, damals schon so klein wie ein Damenfinger, ziehen die Creme der europäischen Gourmetszene in ihren Bann. Das Glöcklein wird zum lauschigen Aushängeschild der Nürnberger Rostbratwurst, in einem Atemzug genannt mit dem Auerbachskeller in Leipzig, wo Goethes Faust mit Mephisto seinen Schoppen trank. Als dann mit den ersten Dampflokomotiven neugierige Wurstesser in Scharen in die Stadt einfallen, platzt der windschiefe Anbau aus allen Nähten. Für die scheuen Nürnberger bleibt kaum noch Platz in ihrer alten Stammkneipe.

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts überlassen sie die wenigen Sitzgelegenheiten fast gänzlich »dem großen Strom der Vergnügungsreisenden, der alljährlich Nürnberg überflutet« (Gartenlaube).
Schwärmend malt das Fachblatt für biedere Behaglichkeit ein Bild, das bis 1939 zum städtischen Alltag gehört:
»Jene zahllosen Gäste verfehlen nie, auf ihren Besichtigungsgängen oder -fahrten in der Droschke, im Auto oder in jenen seltsamen menagerieähnlichen Vehikeln, die man Rundfahrtwagen nennt, am Bratwurstglöckle halt zu machen, auf einige Minuten einzukehren oder es sich wenigstens von außen anzusehen.«

Das Ende ist brutal.
Um die Jahrhundertwende sinniert Prof. Dr. Paul Johannes Ree auf einem nächtlichen Spaziergang durch die Altstadt noch nichtsahnend:
»So wie der Körper aufhört zu sein, wenn der Geist sich von ihm trennt, so würde in dem Augenblicke das Bratwurstglöcklein aufhören zu existieren, sobald es von der Moritzkapelle losgelöst werden würde. Durch- und füreinander sind sie da.«
1945 werden Moritzkapelle und Glöcklein in Schutt in Asche gelegt.

Nürnberger Bratwurstesser

Über alle Zeiten lebten in Bratwurst-City Menschen, die durch die Einnahme einer überproportional großen Wurstmenge unsterblich geworden sind.

Der berühmteste ist der Stadtrichter Hans Stromer, 1554 wegen Spionage für Weißenburg und Veruntreuung Öffentlicher Gelder zu lebenslanger Turmhaft im Luginsland verurteilt. Ihm hat man »alle Mahlzeiten neben anderer Speis eine Bratwurst aufsetzen müssen«, berichtet die Chronik über das einzig gewährte Privileg des prominenten Häftlings.
In Wahrheit aber bekam er täglich zwei und an hohen Feiertagen noch einige dazu. Andernfalls hätte Herr Stromer in seinem 38 Jahre währenden Kerkerleben nie und nimmer die 28.000 von der Stadt bezahlten Würste verspeisen können, die Johannes Müllner akribisch auflistet. Nachdenklich schließt der Stadtschreiber seinen Eintrag:
»Die Bratwürste, die er verzehrte, müssen sehr gut gewesen sein, daß sie ihm nicht leid geworden sind.«

Noch mehr schmeckt es einer weniger bekannten Persönlichkeit.
1930 outet sich der Oberkellner des Bratwurstherzle. Herr Friedet Stang, beruflich nur mit 23-gr-Würstchen befaßt, bekennt der Öffentlichkeit »seine eingefressene Liebe zur 50-gr-Bratwurst« (Bayerland, 1979).

Das Journal enthüllt:
»Seit sieben Jahren aß er vier Stück zum Frühstück und wöchentlich zweimal je acht Stück zum Abendessen. Dies ergab rund 16.000 Bratwürste mit einem beachtlichen Gewicht von 16 Zentnern und einer erstaunlichen Länge von 2400 Metern.«
Auf 38 Jahre hochgerechnet, kommen wir auf die bestechende Anzahl von 86.982 Stück á 50 gr, was etwa 42.000 Bratwürsten aus der Zeit des Stadtrichters entspricht. Alle Achtung.