Die Rettung der Bratwurst
Tapfere Ritter, Pfeffersäcke und geheime Rezepturen
Lautstark hallt aus dem Wust verstaubter Akten noch immer der Schlachtenlärm der Wurstgefechte wider, doch den Männern, die sich schützend vor das Würstchen stellten, ist kein Denkmal gesetzt. Kein Chronist des Mittelalters bemerkt das Häuflein Aufrechter, das sich von der Donau bis zum Main um das Bratwurstbanner schart. Das Ziel: Die Schaffung einer Sicherheitszone, in der die malträtierte Königin in ihrer dunkelsten Epoche ungefährdet der Vollendung entgegensehen kann.
Mutig gehen die Ritter der Wurst ans Werk. Im Jahr 1500 wird der fränkische Reichskreis gegründet, eine Organisation aller 24 fränkischen Fürsten, Bischöfe und Reichsstädte zur Wahrung fränkischer Lebensart. Uneinnehmbare Bratwurstbastionen werden errichtet. Die bekannteste Coburg, 1240 zur Stadt erhoben und um 1550 durch eine starke Burg gesichert. In Coburgs Mauern leben pflichtbewußte Parteigänger des ehernen Gesetzes, das noch am Ende des 20. Jahrhunderts gelten soll: »Die Bratwurstsaison begingt am 1. Januar und endet Silvester« (Coburger Fremdenverkehrsamt). Selbst im streng katholischen Würzburg vergißt der Weihbischof Bibel und Gebote und gestattet in der fleischlosen Fastenzeit Kranken, Rekonvaleszenten und Wöchnerinnen gegen Vorlage eines von ihm unterzeichneten Bezugsscheines den für sie lebensnotwendigen Wurstgenuß.
In der fränkischen Provinz, wo nur die Bratwurst den eintönigen Ernährungsrhythmus des Bauernjahres unterbricht, hat sie im Landmann einen natürlichen Verbündeten. Selbstlos streitet der Experte für die gute Hausgemachte um die Erhöhung der Verzehrfrequenz und erfährt christliche Nächstenliebe von den lokalen Stellvertretern Gottes. Die erweitern kurzentschlossen ihren Kalender um ein wichtiges Datum: den Tag der Dorfkirchweih, von der Bevölkerung mit heiliger Inbrunst begangen. Und siehe, selig lächelt der Kirchenheilige im Qualm des nagelneuen Bratwurststandes, dem umlagerten Mittelpunkt des derben Festes praller Lebensfreude. Um 1500 kann der Landmann von Meißen bis zum Hochstift Bamberg, von den Fürstentümern Ansbach bis Bayreuth nach Nürnberg melden: »Der Duft dieser auf dem Rost gebratenen Würste fehlt auf keinem Festplatz.«
Hier, in der Freien Reichsstadt, laufen die Fäden des über Franken ausgeworfenen Netzes zur Rettung Ihrer Majestät zusammen:
In der Mitte Europas, quasi im Auge des Taifuns, wo die Auseinandersetzungen so heftig toben, daß 1503 das Mitbringen von Brotmessern in Gastwirtschaften untersagt wird, findet die Bratwurst ein sicheres Asyl. Entschlossen verteidigt die Weltstadt an der Pegnitz das kulinarische Vermächtnis der fränkischen Könige.
Eine Schlüsselrolle übernimmt dabei die Gilde der Kaufleute. Die Handelsmänner mit besten Kontakten zu den Gewürzbasaren des Orients helfen den städtischen Wurstlern über eine jahrtausendealte Würzgrenze: Aus allen Himmelsrichtungen schaffen sie die kostbarsten Ingredienzien herbei und geben sie den Metzgern zu Vorzugspreisen ab. Auf den Wochenmärkten verteilen sie kostenlose Ableger einer Pflanze aus der Gattung der Lippenblütler, die sie am Mittelmeer entdeckt haben. Bald blüht an den fränkischen Waldrändern und in den Vorgärten der Einheimischen der wilde Majoran, von den einfachen Menschen liebevoll »Wurstkraut« genannt.
»Der Grad der erreichten Wurstkulturen drückt sich darin aus, welche bedeutung man dem würzen beimißt« (Kurt Nagel)
Dem eingeborenen Metzger, der dem Brät bislang nur mehr oder weniger Salz beigab, steht plötzlich eine reiche Palette natürlicher Geschmacksveredler aus aller Welt zur Verfügung. Schlagartig boomt sich das fränkische Wurstgewerbe des Spätmittelalters an die Spitze seiner Branche. Mit Bergen von gerebbeltem Majoran und Tüten voller Pfeffer, Muskat, Koriander, Ingwer, Thymian oder »Gewürznägelein« sperren sich die Meister in ihre Labors ein, fasziniert von der Fülle der sich eröffnenden Möglichkeiten. Genießerisch experimentieren sie mit »gedörrten, gereucherten, gesottenen, gepratenen Würsten, Kropff-stopfenden würgenden Pluthunden, glatgehöbleten Schübling und Pratwürsten, Lantzknechtischen Schübelwürsten, rasen Pfefferwürsten, Bauchplehigen Roßwürsten, Stulgengigen Mettwürsten, Zitterigen Rech und hasenwürsten, Rosenwürsten, Saltzutzen und kropftösigen Würsten«, wie der Dichter Johann Fischart (1546-1590) in seiner »Wurschtität« überliefert. In der Abgeschiedenheit der Gewürzkammern mischen und mengen sie, ganz allein mit sich und ihren geheimsten Wurstgedanken, gewagte Brätmelangen, deren Rezepturen sie mit Argusaugen hüten.
Während die Wurstmacher hoch oben auf Gewürzwolke sieben schweben, experimentieren derweil die gesprächigen fränkischen Garköche am Grill. Entscheidend für den letzten Geschmackskick der Gebratenen á la Franconia, sagen sie, ist das richtige Brennmaterial. Säckeweise verfeuern sie Edel- und Nadelhölzer und können bald mit ersten Ergebnissen aufwarten: »Wacholder oder Tannenreisig!«, rufen Rothenburger Röster. Noch Ruß im Gesicht, verkünden Coburger Würstchengriller begeistert, für ihr Produkt gäben Kiefernzapfen, bekannt als »Thüringer Weihrauch«, die ideale Glut.
Die Nürnberger Garköche aber schwören auf Erlen-, wahlweise Buchenholz, das wegen seiner Hitzeentwicklung zwar große Aufmerksamkeit erfordert, aber dazu beiträgt, einer Weltneuheit ihr einzigartiges Aroma zu verleihen: der knapp 25 gr schweren Nürnberger Rostbratwurst.