Die Bratwurst ist der knusprige Spiegel der fränkischen Seele. Kein anderer Gegenstand verkörpert jede Nuance des diffizilen fränkischen Wesens mehr als sie. Wie aber der »typische Franke« ein Trugbild irregeleiteter Volkskundler ist, ist auch die typisch fränkische Bratwurst ein Phantom. Die fränkische Bratwurst gibt es nicht. Das Volk »ohne gemeinsame Zeitung, ohne gemeinsame Hauptstadt« (Max v. Aufseß), das sich seit Kaiser Karl auf keinen gemeinsamen Herrscher mehr festlegen wollte, ist auch bezüglich der besten aller Würste gespalten.
So beginnt jeder Grillabend mit der verhängnisvollen Frage, wo die Würstel denn gekauft wurden. Und er endet mit einer hitzigen Auseinandersetzung der versammelten Expertenschar, wo es bessere gibt. Zu einem Ergebnis kommen sie nie – erstens ist es spät geworden, und schließlich ist die fränkische Bratwurst nichts weniger als das rostbraune Abziehbild der tiefen inneren Zerrissenheit dieses Volksstammes. Alle Franken lieben die Königin der Würste, aber alle lieben eine andere.
»Die Neigung zum Niedlichen ist den Franken ebenso angeboren wie der Hang zur Eigenbrötelei« (Wolfgang Buhl)
Die Völkerpsychologie umschreibt die zunächst irritierende Tatsache, daß sich die Franken untereinander nicht einmal über ihr Leibgericht einigen können, höflich mit dem Begriff »fränkische Vielfalt«. Anders ausgedrückt: Im Gegensatz zur königstreuen bayerischen Einheitsweißwurst, von der es nur gute oder schlechte gibt, ist jede Bratwurst aus dem Land der Eigenbrötler das schönste Zeugnis multikultureller Offenheit.
Leckermäuler mit Sinn für den knackigen Biß werden auf den Schwingen der saftigen, auf Butzelküh gerösteten Coburger in den Wursthimmel getragen. Die deftige Bauernbratwurst im Dorfgasthaus zu Leutenbach entführt den Freund des Rustikalen ins siebte Bratwurstparadies. Geschlossen stehen die Schweinfurter hinter Milch im Brät, manche Oberfranken wollen auf Kümmel nicht verzichten, kurzum: Jede Region, jedes Dorf, jeder Metzger schwört auf seine Wurst. Frankenforscher Dettelbacher: »Protestieren hilft da gar nichts, denn in jeder Gegend hält man seine Bratwurst samt Beiwerk für die einzig richtige Art.«
Nicht nur hinsichtlich Geschmack und Kaugefühl sind diese Würste sehr verschieden. Auch äußerlich ähnelt keine Bratwurst der anderen. Horst Christoph: »Die Physiognomie der fränkischen Bratwurst ist ähnlich vielfältig wie der Körperbau der Einheimischen.« Daß aber in ihrer Metropole Nürnberg auf eng gesetzten Gitterstäben die kleinsten Bratwürste der Welt brutzeln, hat nichts mit dem Wuchs der hiesigen Bevölkerung zu tun.
Fitzgerald Kusz: »Allem Großen gegenüber ist der Franke skeptisch. Sogar der Zwerg ist ihm nicht klein genug – er macht sofort ein Zwergler daraus.«
Wie wahr. 1975 tagte ein internationaler Kongreß in den Mauern der Noris und hätte keine würdigere Stätte für sein Symposium mit dem Thema »Zerkleinern« wählen können. Traditionell fühlen sich die Bewohner Frankens eher dem Mikro- denn dem Makrokosmos zugehörig; je kleiner, desto feiner. Kein Zufall deshalb, daß in der Stadt, die die Menschheit mit der dünnsten Nähnadel aller Zeiten beglückt hat, auch das winzigste Wunderwerk fränkischen Metzgerfleißes zu Hause ist: das berühmte Nürnberger Würstlein, das »gerade so lange wie ein bezaubernder Damenfinger sein möchte« (Goldner). In ihm brachten die Franken ihre Neigung zum Mikroskopischen in eine außerordentlich schmackhafte und angemessen kleine Form.
Bei aller Liebe zum Kleinen: Franken wäre nicht Franken, gäbe es hier nicht auch die längste Bratwurst der Welt. Die »Meterwurst« aus dem Weindörfchen Sulzfeld am Main, geringelt in der Pfanne gebraten, markiert neben der 93 cm kürzeren Nürnberger den zweiten Eckpunkt auf der Bratwurst-Längenskala. Dazwischen aber herrscht die ganze fränkische Vielfalt. Auf 30.000 Quadratkilometern tummeln sich Große, Dicke, Kleine, Plumpe oder Schlanke, zu denen sich zwanglos einige Über- und Kindergrößen gesellen.
»Meterlang! Ist das zu fassen?« (Johannes Mario Simmel)
So unterschiedlich wie ihre Bratwurst sind auch die Franken. Nicht nur äußerlich. Die einen trinken Bier, die anderen Wein, manche beides. Sie sind evangelisch oder katholisch, zum Main sagen sie mal »Ma«, mal »Mä«, mal »Mee«. Bratwurst essen die einen nur mit Kraut, die anderen unbedingt mit Meerrettich, doch auch da lassen sie sich nicht festlegen. Sie sind ein einziger Widerspruch. Sie sind wortkarg, geschwätzig, stur, unerwartet nachgiebig, neugierig, interesselos, phantasievoll, ohne einen Funken Einbildungskraft, apathisch und lebhaft, hintergründig witzig und völlig humorlos.
Die wenigsten Franken ahnen, wie sehr sie ihrer Bratwurst gleichen. Beide verbergen ihr geheimnisvolles Innenleben hinter einer unscheinbaren Haut. Beide ziehen die sanfte, rotglimmende Glut dem verzehrenden offenen Feuer vor, denn Bratwurst und Franke kennen das älteste der Grillgesetze nur zu gut: »Lieber langsam rösten als schnell verkohlen«.
Daß Franken duldsam und leidensfähig sind, ist bekannt. Völkerkundler nennen diesen Wesenszug »fränkische Toleranz« und meinen damit: Franken lassen sich viel gefallen, bis sie platzen. Ganz wie ihre Bratwurst. Auch sie beißt tapfer die Zähne zusammen und unterdrückt die aufflammende Röte, wenn sie im Rohzustand schamlos als »Naggerte« verzehrt wird. Und selbst wenn sie sich darüber blau verfärbt – still und klaglos läßt sie, deren eigentlicher Zweck im Braten liegt, die peinigende Prozedur des Siedens im Zwiebelsud über sich ergehen. Erst beim Einsulzen ist für die arme Bratwurst die Schmerzgrenze überschritten. Goldner: »Eingeschlossen in einer wackligen Masse erwartet sie fröstelnd und verunsichert in einer traurigen Stimmung das unrühmliche Ende.«
Zu Lebzeiten aber wissen Franke wie Bratwurst die Feste zu feiern, wie sie fallen. Daheim spielen beide die Biederen. Sittsam und friedlich sind sie am Familientisch versammelt. Das Gespräch plätschert leise vor sich hin, die einen bitten höflich um mehr Senf, die anderen liegen fett und träge in der Pfanne. Doch wehe, sie sind losgelassen! Dann wird die Maske des zufriedenen Kleinbürgers abgeworfen.
Auf Kirchweihen, Straßenfesten oder Spritzenhauseinweihungsfeierlichkeiten – überall das gleiche Bild. Plötzlich bietet sich die Bratwurst lockend zum Verzehr dar. Ihr betörender Duft, ihr sinnlicher Geschmack verfehlen ihre Wirkung nie. Von dem ganzen Rummel genauso erregt wie die Königin der Würste, läßt sich ein ganzes Volk ohne Widerstand verführen und greift zu. Ein Verführter: »Der Appetit der zahllosen Genießer reizt auch dich – ihre Freude wird deine Freude, und schon läßt du dir das erste gebratene Ding zustecken.«
Der weitere Ablauf der Veranstaltung ist vorgezeichnet. Es kommt zu einer Symbiose von Mensch und Bratwurst. Im Verlauf von nur wenigen Stunden schaukeln sich beide solange gegenseitig hoch, bis sie alle sind. Die einen physisch, die anderen psychisch. Wir kommen zum Schluß. Franken ist das einzige bekannte Land, dessen Bewohner sich in einer Bratwurst spiegeln, bevor sie eins mit ihr werden. Die Franken sind auch der einzige Stamm, dessen kleinster gemeinsamer Nenner eine Bratwurst ist. Und nur in Franken steht ihr ein Schutzheiliger zur Seite – St. Mauritius, das Bratwurstmännlein. Entsprechend inbrünstig verehren die Eingeborenen die Regentin des fränkischen Wurstparadieses. Mit verzehrsfördernden Maßnahmen (Tag der offenen Tür, Sonnwendfeier, Wurstwettessen u. v. m.) wird ihr Umsatz im Inland, durch Mundpropaganda ihr Ansehen im Ausland vermehrt. Denn hier sind die Untertanen Ihrer Majestät Meister der unwiderstehlichen Eloquenz.
Fragt nämlich ein Fremdling ein beliebiges Mitglied dieses zerrissenen Völkchens nach dem besten aller Nahrungsmittel, wird dieses nicht wie aus der Pistole geschossen antworten: »Das ist die Bratwurst von meinem Metzger Gassner.« Nein. Bedächtig wird es den Kopf wiegen. In seine Augen wird ein eigenartiger Glanz treten. Urerinnerungen werden erwachen. Dann endlich wird ein feines Lächeln seine Lippen umspielen, bevor es ergriffen murmelt: »Das ist die Bratwurst aus Franken!«
Meister der Kleinkunst
Ein Wirt des Bratwurstglöckleins verfertigte angeblich Würstchen, so klein, daß ihm eines Tages ein Luftzug zwei Stück ins Auge trug. »Und zwaa Tach klacht er etza scho, er hätt‘ im Auch was drinna, und wergli, wäi der Doktor kummt, tout der zwaa Werschtla finna.« Der Arzt weigerte sich übrigens, sie zu entfernen – wegen solcher Kleinigkeiten lohne ein Eingriff nicht.
Die Geschichte der Bratwurst
Schätzungsweise zwei Millionen Jahre vergingen von der nebelverhangenen, bratwurstlosen Menschheitsdämmerung bis hin zur fränkischen Spezialität, die vakuumverpackt oder in Dosen in alle Himmelsrichtungen verschickt wird.
Die Riesenbratwurst
Heute nickt die Kundschaft bei einem Riesenzeugnis braven Handwerksfleißes anerkennend, doch die Faszination ist nicht mehr die von einst. Anno 1614 aber kann die Nürnberger Metzgerszunft noch mit offenen Mündern rechnen.
Die Nürnberger Extrawurst
Nirgendwo sind die Würstchen kleiner als in der 498.000-Seelen-Stadt östlich von Fürth. Nirgends liegt die »ortsübliche Qualität« (Fleischerfachjargon) höher über der Meßlatte des Deutschen Fleischerverbandes als in Nürnberg.
Dualismus oder Monismus
Eine zeitgemäße Betrachtung von Prof. Dr. Paul Johannes Rée zum Verhältnis der materialistischen und des spiritualistischen Lebensprinzips – erläutert anhand des Bratwursthäusles in Nürnberg!
Gedicht um die Nürnberger Bratwurst
Hier lesen Sie ein Gedicht von Heinrich Wolke über die Nürnberger Bratwurst in Nürnberger Mundart.
Hans Sachs im Bratwurstglöcklein
Als mehr denn vor dreihundert Jahr – Ich leiblich noch in Nürnberg war, Im Handwerk fest und wohlbewährt, Als Dichter überall geehrt, Ging ich mit hellem, frohem Sinn – Wohl durch die trauten Gassen hin, Nach Tages Arbeit auszuruhn.
Historische Postkartenverse und Sinnsprüche
Postkartenverse und Sinnsprüche rund um die Nürnberger Bratwurst und das Bratwürstglöcklein in Nürnberg, verfasst von der Nürnberger Fabrikantengattin Helene von Forster.