Die fränkische Bratwurst im frühen Mittelalter
Schöne, heile Welt – Die fränkische Bratwurst in der Stadt des frühen Mittelalters
»In diesem Monat ist gut Bratwurst essen und Könige krönen« (Practica Practicorum, Kalenderblatt für Januar)
In Friedenszeiten nutzt der Metzger sein Werkzeug, um jene flüchtigen Kunstwerke zu schaffen, die meist den übernächsten Tag nicht mehr erleben. Fachgerecht zerlegte Bratenstücke sowie Leber-, Blut- und Hirnwürste aus weniger wertvollen Grundstoffen gehören zum allantophilen Pflichtprogramm des Meisters.
Seine Liebe und sein ganzes Können aber investiert er in die Delikateßbratwurst aus reinem »sweynen flaisch«. Das geniale Halbfertigprodukt, das – je nach Stückzahl – eine volle Mahlzeit bestreitet oder nur den kleinen Hunger stillt, wird zum Renner auf den städtischen Wurstmärkten. Treueste Kunden sind Hausfrauen, die ihrem Göttergatten Gaumenfreuden bereiten wollen, und Garköche.
Deren Holzverschläge, die Vorfahren der heutigen Imbißbuden, kleben zwischen Kram- und Trödelläden am frischen Mauerwerk der Kathedralen und erfreuen sich regen Zulaufs. Hier pausiert das einfache Volk, »Komödianten, ungehobelte Bauern, Gaukler und allerlei streunende Vögel« bilden bei Dünnbier und Bratwurst fröhliche Runden. Wer es sich leisten kann, bestellt nach.
Und auch der Bratwurstlieferant, das Schwein, fühlt sich inmitten seiner Liebhaber pudelwohl: Frei und ungebunden streift es durch winklige Gassen und verbringt die Nacht wohlig grunzend in einem der zahllosen Koben, die sich an windschiefe Fachwerkhäuser schmiegen. So ist um 1200 die mittelalterliche Bratwurstwelt in schönster Ordnung. Die Königin der Würste, die jetzt als »pratwurst« erstmals in deutschsprachigen Lexika auftaucht, steht auf einem Höhepunkt ihrer Popularität.
Nicht nur in Gottes Wurstlabor Franken, auch in Thüringen, Schlesien, dem Erzgebirge und der Uckermark wetteifern Meisterfleischer um den optimalen Geschmack des beliebten Gaumenkitzels. Die Bratwürste, die wannenweise die Wurstkammern verlassen, sind erschwinglich, die Qualität stimmt. Das mühsam auf dem Holzblock gewiegte und reichlich gesalzene Fleisch im zarten Saitling wird zum Sinnbild von Üppigkeit und Wohlleben. Schön wie »Venus auf den Rosen« räkelt sich das von Dichtern verherrlichte Produkt auf Sauerkraut, hartgeräuchert wird es bevorzugt bei Faschingsraufereien als Scherzwaffe eingesetzt.
»Würste, lenger dan ein Speer. . .« (Badischer Minnesänger im 13. Jahrhundert)
Es ist die schöne Zeit, in der die Metzger ihren Metzgerschwur getreulich halten, die Zeit, in der sie »das Vertrauen rechtfertigten, das ihnen der Kunde entgegenbrachte« (Ernst Johann). »Gepratne Würste« sind in aller Munde, um »brotwörscht« kreist der Geist der Zeit. Die Minnesänger, deren Gedanken allein sich um die wahre Liebe ranken, stimmen von Hamburg bis Bozen das Hohelied der Bratwurst an. Sehnsuchtsvoll singen sie an den Höfen ihrer Brötchengeber von Würsten, »lenger dan ein speer«, und die Damenwelt beginnt zu träumen.
Doch es kommt alles anders. Die Würste werden immer kleiner, teurer, schlechter. Zuerst im fernen Augsburg, wo sich der Rat schon 1276 genötigt sieht, sich schützend vor das Brät zu stellen…
Nach dem Einzug der Metzger in die Stadt vergehen 200 bratwursttechnisch stille Jahre.
1066 läutet Wilhelm der Eroberer mit der Schlacht von Hastings die dunkle Epoche der britischen Esskultur ein.
1271 bricht Marco Polo zu seiner ersten China-Reise auf, wo er die Nudel für die italienische Küche entdeckt.
Zwischen diesen kulinarischen Eckdaten ziehen die Fleischer – von den Chroniken fast unbemerkt – mit ihren wackligen Holzständen in stattliche Schlachthäuser um, gründen nach dem Vorbild anderer Handwerke eine schlagkräftige Organisation, die Zunft, und verdienen sich mit ihren Würsten goldene Nasen.
Noch sind Beilagen wie Kartoffeln, Nudeln oder Reis unbekannt.
Hauptnahrungsmittel – auch für das einfache fränkische Volk – ist das Fleisch, von dem gewaltige Mengen verdrückt werden, in Würzburg beispielsweise 200 Kilogramm bzw. 2000 Bratwürste pro Kopf und Jahr.
Nebenbei stopft sich die Oberklasse bei ihren Turnieren, Hochzeiten und zwanglosen Gelagen derart voll, daß ein Stubengelehrter des 19. Jahrhunderts stöhnt: »Solch ein Rittermagen war ein Abgrund«, um ergänzend anzufügen:
»Auch Bürgerliche schlugen eine gute Klinge, wenn’s die Tafelfreuden galt.«Kein Wunder, daß bei solchen Umsätzen die Gilde der Metzger bald eine Schlüsselstellung in den Städten einnimmt.
Neben der lebenswichtigen Wurstversorgung bürdet sich die »immer streitbare und wehrhafte Metzgerzunft« weitere soziale Lasten auf. Ganz ums öffentliche Wohl besorgt, sitzt sie hellwach im Magistrat, organisiert die ersten Karnevalsumzüge und steht im Falle einer Belagerung zuverlässig an vorderster Front.
»Wie haben da die Fleischerbeile zwischen den Rüstungen der wohlgewappneten Ritter und Reißigen herumgeschwirrt, Tod und Verderben bringend«, begeistert sich ein Augenzeuge.