Die Geschichte der Nürnberger Bratwurst

Eine zeitgemäße Betrachtung von Prof. Dr. Paul Johannes Rée

Es war eine kalte Winternacht. Bös hatte es der Ostwind auf die Nasenspitzen und Ohren abgesehen. Aber ich merkte nichts davon. Meine Gedanken waren noch viel zu lebhaft mit den Fragen beschäftigt, die in dem anregenden Freundeskreise, aus dem ich herkam, während des ganzen Abends erörtert worden waren. Von Haeckels Monismus, der als verschleierter Dualismus keinem von uns philosophisch zu imponieren vermochte, hatte das Gespräch seinen Ausgang genommen, von da war es zum Wesen des eigentlichen Monismus übergegangen und dabei hatte es sich herausgestellt, daß alle, mochten sie materialistisch oder spiritualistisch, pantheistisch oder theistisch gesinnt sein, im letzten Grunde das monistische Prinzip vertraten.
Selbst unser eifriger Cartesianer mit seiner schroffen Entgegensetzung von Körper und Geist mußte doch schließlich zugeben, daß ihm dabei so etwas wie Leibnitz‘ prästabilierte Harmonie vorschwebte, und unser straffer Kantianer, der bei jeder Gelegenheit auf den Dualismus von Denken und Anschauung pochte, mußte zugeben, daß er dabei doch schließlich in Schellings Identitätsphilosophie mündete. Merkwürdig, dieselben, die Haeckels naivem Hylozoismus gegenüber das Dualistische ihres Standpunktes betonten, erkannten im Lichte des streng philosophischen Denkens den monistischen Charakter ihrer Weltanschauung. Wo lag nun die Wahrheit? Im Dualismus oder im Monismus? Mir ging gerade das Faustische

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen,

durch den Kopf, als plötzlich mein Schritt gehemmt wurde. Vor mir lag, vom hellen Mondlicht beschienen, die Moritzkapelle mit dem sich an sie schmiegenden Bratwurstglöcklein. Ja, war das nicht die Illustration dessen, was uns den ganzen Abend beschäftigt hatte? War das nicht der ausgesprochene Dualismus? Hier das materialistische, dort das spiritualistische Lebensprinzip, hier das dem materiellen Wohle dienende Bratwurstglöcklein, das uns mit seinem traulichen Wuchs, den kleinen Fenstern und Türen, den gemütlichen Fensterläden und dem aus dem niedrigen Dache aufsteigenden hohen Schornstein wie ein Märchen aus alten Zeiten anmutet, dort das zur Stillung des geistigen Hungers errichtete Kirchlein, das unsere Gedanken aus dem Naturleben heraus ins Zeitlose leitet. Ja, es stimmte genau. Der Gegensatz der beiden Seelen, hier war er versinnbildlicht:

Die eine hält in derber Liebeslust
Sich an die Welt mit klammernden Organen,
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen.

Nie kam mir die Gotik entmaterialisierter vor als beim Anblick dieser vom Mondlicht beleuchteten Moritzkapelle, nie der Barockstil, mit dessen massiven Formen der Halbgiebel der Wurstküche sich an die Kapelle klammert, erdenschwerer als in diesem Augenblicke, und nirgends habe ich einen so markanten Ausdruck für den unser ganzes Sein beherrschenden und zerreißenden Dualismus gefunden, als wie ihn das Nebeneinander des breitmassigen derben Schornsteins und der ätherischen Fiale darstellt. Und dennoch! Haben wir nicht trotz dieses Zwiespalts den Eindruck einer geschlossenen Einheit? Kann hier wirklich von einer Zweiheit d. h. von dem Ansichsein zweier reinen Einheiten die Rede sein, oder sind nicht, was hier als Zweiheit erscheint, vielmehr die im Verhältnis des Durch- und Füreinanderseins stehenden Phänomena eines an und für sich seienden Noumenons? Unmöglich ist es, sich das Bratwurstglöcklein ohne die Moritzkapelle und umgekehrt diese ohne das Bratwurstglöcklein zu denken. Jedes von ihnen hat seine Bedeutung nur durch sein Entgegengesetztes. So wenig man etwas vom Geiste wüßte, wenn er sich nicht im Körper manifestierte, ebensowenig wüßte man in der Welt etwas von der Moritzkapelle, bildete sie nicht mit dem Bratwurstglöcklein eine untrennbare Einheit, und so wie der Körper aufhört zu sein, wenn der Geist sich von ihm trennt, so würde in dem Augenblicke das Bratwurstglöcklein aufhören zu existieren, sobald es von der Moritzkapelle losgelöst werden würde. Durch und füreinander sind sie da. Und was hier die Antinomie aufgehoben und dem Ganzen das wundersame Einheitsgepräge gegeben hat, war die Kunst, welche „die Bürgerin zweier Welten« dem Menschen beigesellt worden ist, um ihm, dem monistisch Gesinnten, den das All durchklingenden Dualismus für Augenblicke vergessen zu machen.

Quelle:
Almanach
Zum Andenken an das
Bratwurstglöcklein in Nürnberg