Lindwürmer und andere Wurstprozessionen

»Anno 1591 Donnerstag nach Faßnacht. Den 18. Februarj haben die schweinenen Metzger zu Nürnberg einen E. Rath daselbst verehrt ein Wurst von Bratwursten Zeug bei 60 Elen lang, zween Metzgers Knecht trugen dieselben an einer Stangen, welche war Rott und weiß gemalet, mit Roßmarin und grünen Schmecken (grünen Riechsträußchen) gezieret hatten einen Stadpfeifer vorher gehen.«

Eine 39 Meter lange Wurst! Das ist noch gar nichts. 1614 ist sie 493 Ellen lang, zehn Jahre später schon 596 Ellen und wiegt 232 alte Pfund. 1658 mißt die Bratwurst 658 Ellen (427 m) und bringt über fünf Zentner auf die Waage. Als sie an einer 49 Werkschuh langen Stange »von ihrer Zwölfen« dem Volk gezeigt wird, gerät dieses völlig aus dem Häuschen.

Den Menschen in ihrer engen Butzenscheibenwelt mit verwinkelten Gäßchen und winzigen Garküchen imponiert vor allem eines: Größe. Die Kirche verschafft sich – zum Ruhme des Herrn – mit himmelstürmenden Gotteshäusern gehörigen Respekt, Adelige mit mächtig beeindruckenden Burgen und Schlössern.
Die Handwerkszünfte ihrerseits ergreifen jede Gelegenheit, »sich durch die Herstellung eines kolossalen Produktes im Gedächtnis der lebenden Generation tief einzuprägen«.
Bevorzugt zu Neujahr oder Faßnacht werden Riesenfässer gezimmert, Riesenbrote und Riesenkuchen gebacken. Und in Nürnberg sorgen alle paar Jahre Riesenstiefel für Aufsehen, »in welchen ein Mann ging, der zu des Volks Lust und Gelächter selbständig umherspazierte.«

Am erstaunlichsten aber finden die Leute die Riesenbratwurst. »Man machte solche Wurst nicht alle Jahre, weil sie zu viel kosteten, und es ist den Ausländern ganz unglaublich, die sie nicht gesehen haben, und haltens vor Lügen, so es doch die lautere Wahrheit ist«, erzählt einer, der sie gesehen hat.
Die Wurst der kühnsten Träume, die dem Schlaraffenland entsprungen scheint – plötzlich wird sie leibhaftig vorbeigetragen. Da bleibt kein Psycho-Haushalt ungerührt.

»Ein und achtzig Schinken, die hacketen sie klein. haben dabey ausgetrunken 2 faß und 1 tonne Bier« (Königsberger Chronik)

Gleich eine »gantze Stadt erreget« eine »Bratwurst-Procession« am Neujahrstag 1601. In der Klopsstadt Königsberg (Preußen) bilden eine 1005 Ellen (653 m) lange Bratwurst und 103 stolzgeschwellte Fleischhauerknechte einen wahrlich sonderlichen Lindwurm. »Der erste hatte das eine, Ende der Wurst etliche mal um den Hals gebogen und etwas hinabhängend, diesem folgten die anderen, alle in gleicher Weite von einander gleichen Trittes nach, die Wurst auf der Achsel tragend, und der letzte hatte sie wieder so um den Hals gebogen wie der erste.«
Bewegt berichtet Christian Weigel »von Jungen und Alten, die sich über dieses Bratwurst-Monstrum verwunderten und in ihren Gedanken verirreten«. Kein Wunder.

Die »lange Wurst von Königsberg«, zur »Celebrierung des neuangehenden Seculums« gefertigt, bleibt für Jahrhunderte die längste Wurst der Welt.

Nürnberg landet 1658 mit seinen 427 Metern nur auf dem undankbaren zweiten Platz, aber: In der Noris werden schon damals die meisten Würste »bis in die Unendlichkeit gestopft«. Zudem sind sie – wie Rezeptvergleiche zeigen – besser gewürzt als ihre Konkurrentinnen und müssen dank einer raffinierten Tragetechnik von nur wenigen Metzgern geschultert werden.

Das schönste Produkt der dunklen Epoche ohne Sommerschlußverkauf und Werbespots erfreut sich auch im Computerzeitalter großer Beliebtheit. Am 21. Oktober 1956 präsentiert die Nürnberger Fleischerinnung ein 500-m-Ding im Cellophanschäldarm. Am Berliner Festzug zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1994 nimmt eine vielbeklatschte 1 km lange Riesenbratwurst aus Jena teil. Das ist lang, aber es gab schon längere: 1982 feiern 15 Baseler Metzger ihren Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde. Nach 20 Stunden Schufterei mißt ihr Werk fünftausendzweihundertzwanzig Meter.

Die lange Wurst von 1614
Heute nickt die Kundschaft bei einem Riesenzeugnis braven Handwerksfleißes anerkennend, doch die Faszination ist nicht mehr die von einst. Anno 1614 aber kann die Nürnberger Metzgerszunft noch mit offenen Mündern rechnen, als sie »An der aschen mittwoch den 9. Marci in einer feinen Ordnung« durch die Straßen zieht.

In etwas ausladendem Satzbau hält die Chronik weiter fest:

»Die Schweinen Metzgersknechte sind mit Schalmeyen und Sackpfeifen in der Stadt umbgangen, und haben eine Wurst vonn gutem Bratwurstzeug 493 Elen (320 m) lang, welches sie gerne uf 500 Elen gebracht. Dazu sind kommen 183 pfund lauter gut Schweinen Fleisch und speck und darunter gethan 20 pf. gantzen pfeffer, das pf. umb 10 Patzen, und anderthalb pfund muskatblue. 12 Metzgerknechte mit Namen trugen: Lorenz Frosch, Hanß Schwartmeß, Niclaus ( Schneider, Christoph Pfefferla, Hanß Starckgraff, Georg Pfefferla, Peter Fleischmann, Georg Baur, Paulus Mair, Jakob Kalb, Conradt Prager und Hannß Baumann Haben dieselbe lange Wurst, welche mit Roßmarin und Schmecken oberlegt und gezieret, an einer langen Stangen, welche Rott und weiß angestrichen, und in mitten mit zweien Eisen zusammen gefaßt, daß sich die Stange, wen sie in eine gassen gangen, hat biegen können, uff den Achseln in der Stadt umbhergetragen, und vorher Ihre spielleut gehabt, die wacker uf gemacht, und ist von Mans und Weibs-Personen, von Jungen und Alten, von großen und kleinen, ein großes Zulauffen, und getrang in allen Gassen gewest, und Jederman die große lange Wurst sehen wollen, wie den in Wahrheit dieselbe Wurst mit Verwunderung als von Jungen Leuten erdacht und gemacht, wol zu sehen gewest; dieselben haben sie noch am Ascher mittwoch zu Abents zerschnitten, und den Herrn Eltern, und andern Herrn des Raths auch Iren Freunden und Bekannten, etliche Elln davon verehret und die übrigen Drummer bei Iren Tantz, welchen sie Im wirts Hauß zur Ploben Flaschen (Blaue Flasche) am Kolen Marckh gehalten, In Froligkeit mit einander verzert, und damit gute Faßnacht gehalten.«