Die Bratwurst bis zum Zweiten Weltkrieg
Von Vaterlandsverrat, Bratwurstpolonaisen und einem Selbstmord
Das 20. Jahrhundert beginnt mit einem Paukenschlag.
Punkt 1900 feiert der Nürnberger Fleischerverein sein 25jähriges Jubiläum mit einer 300 m langen Riesenbratwurst. 44 starke Schweinemetzger schultern sie auf der Insel Schütt und tragen sie an der staunenden Bevölkerung vorbei zum Kulturverein, wo sie in Windeseile aufgeschnitten und verkauft wird – der Meter eine Mark.
Auf der Weltausstellung in Lüttich 1905 dagegen sorgen ungewöhnlich kleine Bratwürste, in einer Kopie des Nürnberger Bratwurstglöckleins serviert, für ungläubiges Kopfschütteln unter den Besuchern – und für fieberhafte Nachfragen. »Selbst der Schah vom Persierland telegrafieret durch das Kabel, er möcht noch eine an die Gabel«, frohlockt eine Geschäftspostkarte des »Bratwurstherzle« nach einer Großbestellung aus Teheran.
Zur selben Zeit kreist in Schweinfurt die Phantasie des Bratwurstlehrlings Hans I., der schon mit acht Jahren Metzger werden wollte, um die große Frage: Gibt es in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, eine Maschine, in die man oben Schweine stopft, und unten kommen Bratwürste heraus? Gibt es nicht. Aber eine andere Weltneuheit made in USA erobert Hansens Herz im Sturm. Eine Schnellfleischschneidemaschine namens Cutter (to cut = schneiden) zerkleinert innerhalb kürzester Zeit eine größere Menge Schweineschulter in einem geschlossenen Kasten problemlos auf die gewünschte Größe. Toll.
So verwandelt sich die biedere Werkstatt des Wursthandwerkers zum hochmodernen Arbeitsplatz des Maschinenzeitalters. Liebevoll streift sein Blick über Cutter, Blitz und Wolf, verweilt wohlwollend an Wurstmenge- und Speckschneideautomaten, um sich darauf gedankenverloren in der Fülle der Füllmaschinen zu verlieren: hand-, preßluft-, wasser- oder öldruckbetrieben ringen sie stumm um die Gunst des Wurstfachmanns.
Während dieser zum Öldruck tendiert, bricht auf den Straßen der Städte ein jahrtausendealtes Tabu. Das bislang verpönte öffentliche Einnehmen einer Mahlzeit wird unter dem Einfluß der allgegenwärtigen »Henkelmänner« erlaubt. Ein aufmerksamer Zeitzeuge: »Heute sind im Alltagsbild städtischer Öffentlichkeit kauende, eine Kurzmahlzeit verzehrende Menschen im Freien nichts Ungewöhnliches.«
Nutznießer dieser Enttabuisierung ist das Bratwurstbrötchen. Es verläßt das Ghetto des Jahrmarktsgeländes und bietet sich in den belebten fränkischen Innenstädten und Industriegebieten an einer Unzahl neuer Ausgabestellen an – am Imbißstand. Die »aus der Hand zu verspeisende Zwischenmahlzeit« (Baumann, Kimpel, Kniess) wird zum Renner des »Kleinmahlzeitenverkaufsgewerbes«. Kritiker, die befürchten, Ihre sensible Majestät könne an rußigen Fabriktoren oder wimmelnden Bahnhöfen an Qualität verlieren, werden schnell widerlegt: »Etwas von der Jahrmarktspoesie der Bratwurst strahlt auch noch dort aus, wo wir sie in nüchterner Umgebung essen, etwa auf dem Bahnsteig.«
Jäh endet das fränkische Bratwurstidyll der Kaiserzeit. 1914 erklären sich die europäischen Nationen den Krieg. In Deutschland heizen völkische Traktate wider die verderbliche Genußsucht den Siegeswillen an: »Wer sich den Wanst vollschlägt, der verrät das Vaterland«, tönt eine der Parolen. Was kann man mit einer Bratwurst aber besseres tun? Also wird die Vaterlandsverräterin verboten, ihre Produktion unter Strafe gestellt. 1915 lassen die kaiserlichen Behörden sicherheitshalber von Februar bis Anfang Mai 35 % der deutschen Schweine ermorden – der Nahrungsmittelkonkurrent des Menschen ist in jedem Krieg eines der ersten Opfer.
Nach amtlich vorgeschriebener Rezeptur müssen die Metzgermeister fortan »Kriegswurst« fertigen, »aus allem möglichen und Wasser gekocht«. In ihrer Berufsehre zutiefst getroffen, erleiden sie obendrein noch herbe »Unannehmlichkeiten mit dem Publikum«. Eine Polizeinotiz aus Würzburg erwähnt: »An den wenigen Verkaufstagen kommt es zu unhaltbaren Zuständen, indem sich vor den Metzgerläden riesige Menschenansammlungen bildeten, die berüchtigten Polonaisen. Polizeiliches Aufgebot erwies sich als nötig, um vor den Läden Ausschreitungen zu vermeiden.« Trotz Bratwurstverbots: 1918 ist der Krieg verloren. Zwei weitere lange Jahre ist die Bratwurst nur auf dem Schwarzmarkt der Weimarer Republik erhältlich, bis sie 1920 im Fleischerfachgeschäft wieder auftaucht. Im selben Jahr wählen die Bürger des Ex-Herzogtums Coburg per Volksentscheid Franken zur neuen Heimat. Die Bratwurstbastion an der Grenze zu Thüringen, seit alters eine Säule Ihrer Majestät, gehört nun erstmals in der Geschichte des bekannten Universums völkerrechtlich zum Stammland der Wurstkönigin.
Das muß gefeiert werden. Selbst die Inflation bringt den nun einsetzenden Bratwurstreigen nur kurz aus dem Takt: Im Dezember 1923, als ein Coburger Würstchen eine Billion Papiermark kostet, winkt auch der harte Kern der Stammkundschaft wehmütig ab. Gottlob bringt das neue Jahr den Währungsschnitt und mit ihm die gewohnten Pfennigpreise.
Deutschland leckt sich noch die Kriegswunden, doch die fränkische Bratwurstwelt ist wieder heil. Im Berlin der zwanziger Jahre suchen verzweifelte Existenzen in zweifelhaften Nachtclubs den letzten erotischen Kitzel, zur gleichen Zeit notiert die »Fränkische Tagespost« schmunzelnd: »Seit Jahrzehnten ist das Bratwurstglöcklein fast ausschließlich auf den Fremdenverkehr eingestellt. Nur der Volkswitz beschäftigt sich gelegentlich mit ihm. Hauptzielscheibe des Spotts sind die dort verabreichten Bratwürste, deren Berühmtheit in der Hauptsache auf ihrer sich immer mehr ausbildenden mikroskopischen Kleinheit begründet scheint.«
Den Touristen ist’s egal. Selig sitzen sie vor ihrem Tellerchen und üben sich in der Kunst, mit der Geschicklichkeit eines Uhrmachers eines dieser filigranen Wunderwerke auf das Gäbelchen zu spießen. Doch nur kurz währt diese unbeschwerte Zeit.
Auf ihren ersten Parteitagen in Nürnberg überlegen die Nazigrößen noch, welches Ministerium das Nahrungsmittel des fränkischen Volkes in eine deutschtümelnde Propagandawurst umwandeln darf. 1937 aber wird ihr Verzehr rationiert – eine Maßnahme der nationalsozialistischen Zwangswirtschaft, die auf den großen Krieg vorbereitet. Als Herr Beckstein im »Bratwurstherzle« zu Nürnberg seine Bedienungen anweisen muß, jedem Gast nur noch lächerliche sechs Würstchen zu verabreichen, kommt es in der Stube zu Tumulten.
Im oberfränkischen Hof schafft es die Fleischergenossenschaft gerade noch, einen Waggon Schweinsdärme aus Wien zu organisieren, da fällt der Coburger Schutzpatron der Bratwurst von seinem luftigen Standplatz. Am 10. März 1939, sechs Monate vor Kriegsbeginn, beobachten zwei Polizisten auf ihrer nächtlichen Streife den »Selbstmord des Bratwurstmännleins« (Coburger Tagblatt), doch die Deutschen verschließen die Augen und wollen das Zeichen nicht erkennen.
Wieder wird »die letzte Spur von Selbständigkeit im Metzgerhandwerk dem Kriegsgott geopfert« (Rothe). Freilich nur ein lauer Vorgeschmack auf den Irrsinn, den Abermillionen von Menschen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit Gesundheit und Leben bezahlen müssen.
Die Versuchung hat einen Namen: Kuni.
»Am Herde steht im schmucken Mieder Kuni, die Maid, gesund und kräftig, die Würste wendet sie geschäftig.« Es ist der Nürnberger Ernst Mummenhof, dem 1909 nach einigen wunderschönen Stunden in der Bratwurstküche diese unsterblichen Verse glücken. Doch Vorsicht, Ernst! Vor allem: Vorsicht, Kuni! Seit dem 11. Oktober 1911 regelt Paragraph 17 der »Vorschriften für den Betrieb von Gast- und Schankwirtschaften« Kunis Umgang mit männlicher Kundschaft. Bis ins Detail:
»Weibliche Personen, die Gäste bedienen, haben sich anständig und gesittet zu betragen und dürfen keine anstößige oder auffällige Kleidung tragen. Es ist ihnen verboten, sich in auffälliger Weise an den Fenstern oder Türen der Wirtschaftsräume aufzuhalten, ferner durch Worte, Gebärden oder andere Zeichen Personen anzulocken. Sie dürfen die Gäste auch nicht zum Trinken auffordern oder bereden. Sie dürfen sich nicht zu den Gästen setzen und nur solange in unmittelbarer Nähe der Gäste verweilen, als zur Bedienung oder Entgegennahme der Bezahlung notwendig ist.«
Die Bratwurst und der Völkerbund
1920 nimmt der Völkerbund, eine Vereinigung der Siegermächte zur Gestaltung des zukünftigen Europas, in Genf seine Tagungen auf. Dabei fällt den Franken eine Zentnerlast von der Seele: »Denn von dieser Zeit an verfertigten die Schweinemetzger, wie im Frieden, eine gute, teurere Wurst, die man gegenüber der Kriegswurst mit Appetit essen konnte«.
Diese Wurst soll für das arme Deutschland sprechen! Per Aeroplan werden 1.500 Rostbratwürste nach Genf geliefert. Das beigelegte Mundartgedicht macht die hocherfreuten Tagungsteilnehmer in drei knappen Zeilen mit dem – im Prinzip – grundsoliden Charakter der unglücklichen Kriegsverlierer vertraut:
»Döis riecht a Blinder in der Nacht, A Volk, dös solche Broutwärscht macht, Dös Volk is in sein Innern gsund!«
Das überzeugt. 1926 ist Deutschland Mitglied der Völkerallianz. Die Franken bedanken sich auf ihre Art – mit einer Erweiterung des Dreizeilers: »Dou hout er recht, der Völkerbund.«