Das schwarze Zeitalter (1380-1618)

Von Lug und Trug und Schnellgalgen

»Leb wohl, du heile Welt! Harr‘ tapfer aus, denn bittre Schmach steht Dir bevor, oh Königin der Würste!« (Anonym).

Es gibt viele Theorien, warum die Bratwurst im späten 13. Jahrhundert zum Zankapfel unversöhnlich kämpfender Parteien wird. Die plausibelste Erklärung liefert Hermann A. Berlepsch in seiner »Chronik vom ehrbaren Metzgergewerk«:
»Bratwurst und Brot gehört auf den Tisch des Bürgers, so oft es Mittag läutet, so oft der Magen seinen Tribut fordert, und Brot und Bratwurst hat die sorgsame Hausfrau auf dem Küchenzettel, wenn sie ihre Tagesordnung beginnt.«

Nun ist aber nichts geheimnisvoller als das Innenleben einer Wurst; der schlampig vernähte Schnabelschuh kann schon vor der Kaufzusage enttarnt und ins Regal zurückgestellt werden, die Bratwurst nicht. Erst bei der Qualitätsendkontrolle im Mundraum des Verbrauchers offenbart sich ihre wahre Güte. Schmeckt sie nicht, ist es zu spät. Sie ist bezahlt, die Empörung groß.

»Sollen sie geschunden, gehackt und in die würste gesteckt werden!« (Thomas Garzoni)

Und die Empörung wächst.
Von Jahr zu Jahr zahlt der Kunde mehr Geld für eine Wurst, deren Inhalt ins Gerede gekommen ist.
Schuld daran ist der noch junge Marktmechanismus, dem die Metzger hilflos ausgeliefert sind: Wollen Verbraucher mehr Ware, als der Hersteller liefern kann, läuft der Markt heiß.
Da bleiben dem Produzenten nur zwei Wege, dem Engpaß zu begegnen* Entweder streckt er die Ware, oder er erhöht den Preis.
Im Verlauf des 14. Jahrhunderts entscheiden sich die meisten Metzger für eine halbherzige Mischlösung und machen sich damit ziemlich unbeliebt. So kommt es in Basel zu bedrohlichen Tumulten, in deren Verlauf die aufgebrachte Menge die Metzger in den Rhein werfen will.

Um die arme Bratwurst entspinnt sich ein Jahrhunderte dauernder Streit mit scharfem Frontverlauf.
Auf der einen Seite die Anbieter. Ganz allein. Auf der anderen Seite das konsumierende Publikum, das die billige Riesenbratwurst ohne Zusatzstoffe fordert. In seinen unüberschaubaren Reihen tummeln sich ehrbare Männer aus Handel, Politik und Kirche. Unter ihnen der einflußreiche Bratwurstesser Thomas Garzoni, der »Grimm und Groll über die Garköche und Wurstmacher hegt« und die Stimmung auf den Punkt bringt. Er schlägt vor, den Sündern »keine bequemlichere Straffe uffzulegen als die poenam talionis, nemlich daß sie geschunden und gehackt und in die Würste gesteckt würden«.

Die Kirche geht noch weiter:
Der Franziskaner Berthold von Regensburg wünscht die betrügerischen Fleischhauer für ihre Würste in die Hölle, und 200 Jahre später wird der fromme Wunsch des Paters Wirklichkeit. Im populären Spottgedicht »Des Teufels Segi« holt sich Satan kurz vor der letzten Strophe einen Meister und seine beiden Gesellen, die heimlich am Brät panschen.
Im Diesseits feuern Fürsten und Magistrate aus allen Rohren auf die Metzger. Es hagelt Erlasse. In Straßburg darf die Bratwurst nur noch vor den Augen des mißtrauischen Kunden gefüllt werden, in Würzburg untersagt Bischof Gerhard von Schwarzburg 1387 »under der buzz ein pfundt pfennig« den Metzgersfrauen, Wurst »feyle zu halten«. Nach Augsburger Vorbild tüfteln in allen deutschen Amtsstuben Bratwurstdezernenten an wasserdichten Bratwurstverordnungen. Und sie melden Vollzug: In Esslingen (Schwaben) schon 1370, im fränkischen Gerolzhofen 1480. In umfangreichen Paragraphenwerken sind Höchstpreis, Gewicht, Größe, Inhalt und Verfallsdatum der Bratwurst klipp und klar festgelegt.

Zur Sicherheit werden regelmäßige Würstchenkontrollen zwangseingeführt, in manchen Städten zweimal die Woche, in Nürnberg täglich. Zwei Stunden lang schlitzen städtische Beamte wahllos ausgesuchte Testwürstchen auf, um zu sehen, »ob nichts darin enthalten sei, das nicht hineingehört«. Mitarbeiter der neugeschaffenen Eichämter tragen Sorge um das korrekte Wurstgewicht und finden noch Zeit, »den Körben der Dienstmägde Würste zwecks Nachprüfung des Gewichts« stichprobenartig zu entnehmen.

»Ich schwers zu meynen Got, das keyn rinds, keyn kälberbluth in dieser pradtwurst sey« (Nürnberger Metzger vor dem Fünfergericht)

Die Metzger begreifen die Welt nicht mehr. Händeringend stehen ihre Zunftmeister vor dem Rat und halten ihm schwerverdauliche betriebswirtschaftlliche Vorträge. Die Herren müßten, bitteschön, verstehen: die Türkenkriege, der Schwarze Tod, der Klimawechsel…
Untertänigst, weisen sie darauf hin, daß sie und ihre Familien selbst an Gewicht verlören und ihr Ende abzusehen sei, falls der Magistrat nicht auf der Stelle die Preise deutlich heraufsetze, und kommen zum Schluß: Die große Billigwurst in diesen Zeiten ist eine Utopie, ein Wurstwitz, ein schöner Traum, den sie, die Fleischer – »leider, leider!« – nicht erfüllen können.
Die Fronten bleiben verhärtet. Jede Petition der Metzger um Erleichterung ihrer Bürde wird abgeschmettert, nicht ohne sie streng an ihren Schwur zu gemahnen, der ihnen die Sicherstellung von genügend Brät auferlegt, »auch wenn sie dabei offensichtlichen Schaden erlitten«.
Stur zerren die Gegner an beiden Bratwurstzipfeln hin und her und fügen ihr dabei nur Schaden zu. Die Hauptleidtragende des Konflikts wird weder besser noch billiger, nur die Überwachungs- und Vollzugsorgane schieben Überstunden bis zum Morgengrauen. Berlepsch: »Wo mehr Gesetze, gibt es auch mehr Strafen.«
Ein Katalog ausgeklügelter Strafmaßnahmen prasselt auf das Metzgershaupt hernieder. Die Skala reicht von Bußgeld und Beschlagnahmung über Berufsverbot und Turmhaft bis zu Leibesstrafe, Pranger und Verbannung.
Als alle Strafen am »kalten, besonnenen Muth« der abgebrühten Metzger wirkungslos verpuffen, blasen die gefürchteten »Comissionen für die Mängel im Metzgergewerbe« zum Generalangriff: Zur Erschwerung des Wurstbetrugs wird die Trennung des Handwerks in Rinder- und Schweinemetzger beschlossen – gegen den erbitterten Widerstand der Zunft. Nur die Metzger, die »sweynen flaisch« verarbeiten, dürfen hinfort Bratwürste herstellen. Und wehe, sie holen sich irgendwelche Zutaten beim Kollegen.
Um es kurz zu machen: Es wird noch schlimmer. Am Ende des 15. Jahrhunderts kann die Schweinezucht nicht mehr mit dem Bevölkerungswachstum mithalten. »Dies zog natürlich wiederum eine Einschränkung des Konsums weiter Schichten nach sich, welche die Schuld an den Preissteigerungen natürlich den Metzgern in die Schuhe schoben« (A. Rothe). In dieser vergifteten Atmosphäre wursteln die Sündenböcke nur noch lustlos vor sich hin. Die Ware schmeckt dementsprechend.

Als der Dreißigjährige Krieg den Streit um die Bratwurst zur Nebensache werden läßt, ist die Bratwurstkultur im größten Teil des deutschsprachigen Raumes den Bach hinuntergegangen. Einzig in Franken und, unter Vorbehalt, in Thüringen stehen die Menschen in Treue fest zu Ihrer Majestät. Sie sind es, die der Königin der Würste über ihre schwerste Zeit helfen. Damit sie sich wie Phoenix aus der Asche erheben und bald zu neuer, ungeahnter Größe emporsteigen möge.

Macht und Ohnmacht des Gesetzes

Der vielseitig begabte Fleischfachmann des späten Mittelalters kennt ein ganzes Potpourri undurchsichtiger Manipulationen, seine Kundschaft zu halbieren, und beim Wurstbetrug hat er die besten Einfälle. Er feilt ein wenig an seinen Gewichten, mogelt mit scharfen Gewürzen Wohlgeruch in altes Fleisch und entfaltet grenzenlose Phantasie auf der Suche nach kostengünstigen Ersatzstoffen für die teure Schweineschulter. Lautstark werden die Fleischer beschimpft, »etwa Lungen und Caldaunen, gering geschätztes oder altes Fleisch, Rinds-, Schöpsen- oder Kälberbluth in die Wurst zu mengen«.

Wird ein betrügerischer Wurstler geoutet, trifft ihn die ganze Härte des Gesetzes. Doch die Gilde der Hersteller, »berühmt für ihre Tapferkeit«, erträgt unbeugsam und stolz jede staatlich sanktionierte Grausamkeit. »Wundern wir uns also nicht, wenn wir aus den halb-barbarischen Zeiten des Mittelalters Strafen kennenlernen, die nach unserem heutigen Begriff für den vollendeten Verbrecher geeignet erscheinen« (Berlepsch).

Die häufigst verhängte Strafe, das gestaffelte Bußgeld wegen Überschreitung des Höchstpreises, zahlt der Metzger kalt lächelnd wie der Parksünder im roten Ferrari. Auch dem sechstägigen Berufsverbot im Wiederholungsfalle gewinnt er noch gute Seiten ab; ohne sich mit der Kundschaft herumärgern zu müssen, nutzt er die verkaufsfreie Zeit, Strategien zur Ultimaten Profitmaximierung auszutüfteln. Weitere Rückfälle ahndet der Arm des Gesetzes mit der Prügelstrafe, die aber am dicken Fell des kräftigen Mannes abprallt.
So führen die Stadträte für hartnäckige Wiederholungstäter die Turmhaft ein, doch die »welterfahrenen Metzger« beglücken die Turmwache mit Wurstpaketen und schicken ersatzweise ihre Frauen und Gesellen in den Knast – bis die unbestechlichen Behörden diese Praxis unterbinden und die Metzger beim Strafvollzug um persönliches Erscheinen bitten. Carl L. Sachs über die Haftbedingungen: »Die Metzger suchten sich die Tage der Haft durch reichliches Essen und Trinken, das sie von ihren Angehörigen sich zutragen ließen, sowie durch Besuche, die sie empfingen, im Einverständnis mit ihren Wächtern so angenehm wie nur möglich zu gestalten.«

Für den Metzger, der bewiesenermaßen »böses flaisch unter das guthe« gemischt hat oder bei der Gewichtsfälschung ertappt worden ist, sieht das Gesetz öffentliche Abstrafungen vor, mit denen nach Auskunft eines Wurststrafrechtsexperten »die bürgerliche Ehre geradezu mit Füßen getreten oder gar totgeschlagen wurde«. Wohnt der Fleischer in Zittau, muß er seine Bratwürste zu Schleuderpreisen auf der Schandschramme verkaufen. In Nürnberg muß er die Ware in die Pegnitz werfen und dann am Hauptmarkt Pranger stehen: Auf einem Holzpodest wird er ins Halseisen geschlossen, den Schmähungen und Kotwürfen der Gassenjugend hilflos ausgeliefert.
Ganz unverbesserliche Metzgernaturen landen am Schnellgalgen, von den Städtern liebevoll »Schnelli« oder auch »Schupfen« genannt. Nach einer Zwangsfastenzeit im Turm setzt man den ausgehungerten Delinquenten in einen Käfig, der am Galgen über einer gewaltigen Odellache hochgezogen wird. Ein Beobachter: »In diesem Korb wurde nun der zu bestrafende Meister dem Hohn des Volkes preisgegeben, bis ihn der Hunger zwang, aus dem Käfig in die Schmutzpfütze hinabzuspringen und von oben bis unten stinkend und besudelt heimzulaufen«.
Doch sitzt er dann daheim im Badezuber, entspannt sich seine Miene, und er denkt wohlig schaudernd an die Bäcker im fernen Konstantinopel. Haben die zum dritten Mal zu kleine Brötchen gebacken, hat er gehört, werden sie mit dem Ohr an die Ladentheke genagelt. Er läßt sich einen ordentlichen Teller Bratwurst bringen, und während er zufrieden verdaut, betrachtet sein inneres Auge halb neugierig, halb mitleidsvoll die Verrenkungen des angenagelten Kollegen beim Kassieren.